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21. Nov. 2011

Griechenland und die verlorene Ehre der Demokratie

Eine Antwort auf Jürgen Habermas und Frank Schirrmacher

Bei der Griechenlandrettung sei die Demokratie „verramscht" worden, Angela Merkel und Nicolas Sarkozy seien „an den Drähten der Finanzindustrie“ zappelnde Marionetten, die die „Post-Demokratie“ einläuteten, lautete die Kritik. Sie geht am Kern vorbei. In der Tat steht die Souveränität des griechischen Volkes auf dem Spiel; verspielt aber wurde sie vom griechischen Volk und von Politikern aller Parteien.

Es war zu erwarten, dass sie kommt: die fundamental-demokratische Kritik an der Gängelung Griechenlands durch die EU, den IMF, die Banken und die internationalen Märkte. Überraschend war, dass diese Kritik zuerst in der liberal-konservativen Frankfurter Allgemeinen Zeitung geäußert wurde. Erst meldete sich am 2. November 2011 der Feuilletonchef und Mit-Herausgeber Frank Schirrmacher zu Wort, dann drei Tage später der Philosoph Jürgen Habermas. Beide sparten nicht mit drastischen Ausdrücken: Von einer „Verramschung“ der Demokratie war die Rede und vom „Machtkampf“ zwischen Politik und Ökonomie, der zugunsten der Ökonomie ausgegangen sei (Schirrmacher). Die Bundeskanzlerin und der französische Staatspräsident Sarkozy wurden als „an den Drähten der Finanzindustrie“ zappelnde Marionetten bezeichnet (Habermas).

Ansonsten geißelte man die „Degeneration jener Werte und Überzeugungen, die einst die Idee Europas verkörpert“ hätten (Schirr­macher), beklagte den Verlust von Würde und Souveränität der griechischen Demokratie oder konstatierte den Übergang in die „Post-Demokratie“ (Habermas), für den Merkel und Sarkozy stünden.

Es ist wahr, die Souveränität des griechischen Volkes steht auf dem Spiel; aber sie ist vom griechischen Volk und von Politikern aller Parteien verspielt worden. Und wenn wir uns umschauen, dann sehen wir, dass sich vergleichbare Dramen in anderen westeuropäischen Demokratien anbahnen. Italien, Belgien, Spanien und Portugal sind nicht weit entfernt von griechischen Verhältnissen, einige deutsche Bundesländer und Kommunen auch nicht.

Viele der heutigen demokratischen Souveräne haben das gleiche Problem, welches feudale Souveräne im 16., 17., 18. und auch noch im 19. Jahrhundert plagte: Ihre Staatsausgaben waren häufig höher als die Einnahmen, und sie lösten dieses Problem, indem sie sich Geld liehen. Das kann man einige Zeit machen, dann gerät man in den Strudel einer Schuldenfalle, und es ist aus mit der schönen Souveränität.

Was dem einen sein Schloss, ist dem anderen sein Sozialstaat

Anders als damals sind es heute nicht aufwendige Schlossbauten, luxuriöse Hofhaltung oder ruhmträchtige Feldzüge, die zur Staatsverschuldung beitragen. Eher ist es die ambitionierte Sozialstaatlichkeit, die angesichts der Globalisierung immer schwieriger zu finanzieren ist (oder nur mit Steuererhöhungen, die die Bürger nicht zu tragen bereit sind). Zudem schlagen die Kosten des Machterwerbs und der Machterhaltung in demokratischen Institutionen zu Buche, bei denen immer mehr politische Parteien und Kräfte mitwirken und finanzielle Ressourcen für die von ihnen vertretenen noblen Ziele mobilisieren wollen.

In Griechenland kam noch hinzu, dass sich dort ein paternalistisches Staatsverständnis herausgebildet hat, das wir auch aus vielen Drittweltländern kennen: Der Staat ist dazu da, dass er einen ernährt und für einen sorgt. In den öffentlichen Dienst zu gehen bedeutet nicht zu „dienen“, sondern „abgesichert“ zu sein. Dieses Gut wurde in Griechenland oft und gerne nach politischen Gesichtspunkten vergeben – und damit wurde (in der Sprache von Habermas) „Legitimität“ erkauft. In Griechenland sind heute mehr als zehn Prozent der Bevölkerung im öffentlichen Dienst beschäftigt (relativ gesehen mehr als das Doppelte im Vergleich zu Deutschland), aber der öffentliche Dienst bleibt weitgehend ineffektiv, ist nicht einmal in der Lage, die Steuern einzutreiben.

Griechenland ist der extremste Fall, aber andere sind gar nicht so weit davon entfernt. Auf der Strecke geblieben ist verantwortliche Regierungsführung. Deutschlands Spitzenpolitiker beginnen das zu begreifen – Angela Merkel, Wolfgang Schäuble, der mögliche SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück. Es gibt mittlerweile auch die Verschuldungsbremse im Grundgesetz, von der wir allerdings noch nicht wissen, ob sie denn tatsächlich einmal wirksam werden wird. Ob die genannten Politiker es schaffen, die Verschuldungsspirale bei uns und bei den anderen, mit denen wir in der Schicksalsgemeinschaft „Euro-Zone“ zusammenleben, in den Griff zu bekommen, wird darüber entscheiden, ob liberale Demokratie und Sozialstaatlichkeit in Europa überleben können oder nicht. Die Alternative sind Szenarien, die wir aus zerfallenden Demokratien in Südamerika kennen oder aus den Mad-Max-Filmen.

Erkenntnisse von naiver Trivialität

Habermas wirft Politikern wie Merkel und Sarkozy vor, dass sie die Schuldenkrise nur einseitig wahrnähmen. Es gelte, sich die wirklichen Ursachen zu vergegenwärtigen. Doch was bietet Habermas an Erkenntnis an, das die Kanzlerin und ihre Berater offenbar übersehen haben? Die Schuldensituation, schreibt er, sei dadurch zu erklären, dass der Gesetzgeber den „Legitimationsbedarf der Gesellschaft“ nur auf diese Weise „befriedigen konnte“. Dahinter stehe der „legitime Anspruch, dass es in den europäischen Wohlstandsgesellschaften neben dem privaten Reichtum keine öffentliche Armut und keine marginalisierte Armutsbevölkerung geben darf“.

Diese Aussagen sind von einer geradezu naiven Trivialität und haben erst einmal gar keinen neuen Erklärungswert. Sie lassen erkennen, dass Habermas die großen politischen und wissenschaftlichen Debatten der vergangenen 40 Jahre über Chancen und Risiken des Sozialstaats in der Globalisierung nicht wahrgenommen oder nicht verstanden hat. Natürlich muss eine Demokratie ihre Legitimität dadurch suchen, dass sie Ansprüche aus der Gesellschaft aufgreift und befriedigt, und natürlich soll es keine marginalisierte Armutsbevölkerung und öffentliche Armut geben. Aber das Problem ist doch, wie demokratisch regierte Staaten diese Aufgaben wahrnehmen und ob sie mit dem, was sie tun, die bestehenden Probleme lösen oder aber noch verschlimmern.

So ist es eine der wichtigsten Lehren aus den politischen Erfahrungen mit Sozialstaatlichkeit in Europa, dass ein Zuviel davon oft dazu führt, dass die Lage der arbeitenden Schichten und vor allem der Armen immer schlechter wird. Der exzessive britische Sozialstaat hat in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts zu einer tiefen Krise der Wirtschaft beigetragen, von der sich das Land bis heute nicht erholt hat und die vor allem die untersten Schichten traf. In Deutschland sind gerade jene Bundesländer und Kommunen am schlimmsten dran, in denen die jeweiligen Regierungen oder Verwaltungen über Jahrzehnte versucht haben, die Lage der unteren Schichten durch eine Politik der Umverteilung zu bessern: Nirgendwo sind die Unterschiede zwischen Arm und Reich heute so groß wie in den reichen und weitgehend von Sozialdemokraten regierten Städten wie Bremen, Hamburg oder Lübeck.

Man kann einen Sozialstaat nicht mit Schulden finanzieren, ohne auf die Dauer diejenigen zu schädigen, die davon am meisten profitieren sollten. Das ist die tiefergehende Lehre, die man aus der derzeitigen Krise ziehen muss. Man hätte sich bei Autoren wie Habermas und Schirrmacher ein wenig mehr Vertrautheit mit diesen Problemen gewünscht.

Stattdessen fordert Schirrmacher die Wiederherstellung des „Primats der Politik“ – eine Leerformel, die nichts bringt, solange kein Geld da ist. Auch die wiederholten Hinweise, alles müsse „europäisch“ gelöst werden, helfen wenig, solange nicht gesichert ist, dass eine Vergemeinschaftung der Fiskalpolitik und der Wirtschaftspolitik wirklich Besserung bewirkt. Nach den Erfahrungen mit der Vergemeinschaftung der Währungspolitik in Europa ist hier eher Skepsis angebracht. Auch ist die öffentliche Armut eine Folge der Verschuldung: Der Bund und fast alle Bundesländer könnten heute ohne neue Schulden auskommen, wenn da nicht die hohen Kosten für Zinszahlungen wären.

Am Ende kritisieren Habermas und Schirrmacher dann die Banken und die Ratingagenturen. Das war zu erwarten und hat durchaus Tradition: Die oben erwähnten hoch verschuldeten Feudalherren des 16., 17. oder 18. Jahrhunderts haben in der größten Not alle Schuld auf diejenigen geschoben, die ihnen Geld geliehen hatten. Meistens waren das Juden, heute ist das die Großfinanz. Mancher Jude wurde dafür gehängt (wie der legendäre Joseph „Jud Süß“ Oppenheimer), oft wurden jüdische Ghettos vom wütenden Mob belagert oder gar gestürmt. Heute muss – trotz gelegentlicher Morddrohungen – keiner der Bankvorstände befürchten, dass er gehängt wird. Aber die Belagerung von Bankenvierteln kann man schon beobachten. Ob das, wie Jürgen Habermas andeutet, zu einer „neuen sozialen Bewe­gung“ führt, die dann alles besser werden lässt, bleibt zu bezweifeln.

Prof. Dr. JOACHIM KRAUSE lehrt Politikwissenschaft an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel.

Sie finden die Beiträge von Frank Schirrmacher und Jürgen Habermas unter: http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/der-griechische-weg-demokratie-ist-ramsch-11514358.html (Schirrmacher) und http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/euro-krise-rettet-die-wuerde-der-demokratie-11517735.html (Habermas).