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01. Mai 2012

„Führen heißt nicht dominieren“

Wie Deutschland seinen Part in Europa spielen sollte

Dass Deutschland eine besondere Verantwortung für die Gestaltung der europäischen Politik hat, ist unstrittig. Doch wie lässt sich diese Führungsrolle wahrnehmen, ohne alte Ängste bei den Partnern zu wecken, wo kann, wo sollte Berlin vorangehen? Radosław Sikorski, Außenminister Polens, und sein luxemburgischer Amtskollege Jean Asselborn im Gespräch.

IP: Herr Sikorski, mit Ihrer Berlin-Rede vom November vergangenen Jahres, in der Sie angemahnt haben, Deutschlands Rolle in Europa sei es, „Reformen anzuführen, aber nicht zu dominieren“, haben Sie eine Diskussion über Deutschlands Führungsrolle angestoßen. Hat Deutschland seine Aufgaben bisher gut erledigt?
Radosław Sikorski: Ich würde keinen unmittelbaren Zusammenhang zwischen meiner Rede und dem, was dann passiert ist, herstellen. Aber ich habe als Reaktion auf meine Rede kaum Proteste gehört. Und Berlin hat schließlich der Europäischen Zentralbank erlaubt, für mehr Liquidität innerhalb des europäischen Bankensystems zu sorgen und damit die Finanzkrise ein wenig zu entschärfen. Deutschland hat also, neben den mikroökonomischen Reformen, die es einfordert, das Richtige getan. Und ja, ich bin der festen Überzeugung, dass in einem Unternehmen der größte Aktionär – selbst wenn er wie Deutschland nicht die Aktienmehrheit hält – auch die größte Verantwortung für das Wohlergehen und die Rettung des Unternehmens trägt.
Jean Asselborn: Mir ist der Unterschied wichtig, den Radek Sikorski gemacht hat: Führen heißt nicht dominieren. Was die Führung in der Euro-Krise betrifft, so hätte Deutschland Anfang 2011 schon einen Schritt in Richtung dessen tun können, was alle in der EU, vielleicht mit Ausnahme Deutschlands, erwarteten, nämlich der Einführung von Euro-Bonds unter bestimmten Bedingungen zuzustimmen. Das hätte Griechenland geholfen, und es hätte das Vertrauen in die Euro-Zone zurückgebracht. Führung bedeutet eben auch, zuweilen gegen die Stimmung in der eigenen Bevölkerung zu handeln und etwas zu riskieren, wenn es darum geht, einen Zusammenbruch zu verhindern. Auch wenn Euro-Bonds für die Deutschen ein rotes Tuch sind, so wäre ihre Einführung doch ein richtiger Schritt gewesen.

IP: Ist der Höhepunkt der Krise tatsächlich vorbei?
Sikorski: Wir verfolgen natürlich genau die Entwicklung der Zinsen, die für Anleihen zu zahlen sind. Italien liegt da jetzt gut unter sieben Prozent, das heißt, es befindet sich nicht mehr in der unmittelbaren Gefahrenzone. In der Krise kommen alle Länder auf den Prüfstand. Die Märkte belohnen gutes Verhalten, und sie bestrafen schlechtes.

IP: Führung bedeutet, Verantwortung zu übernehmen – und vielleicht hat man diesen Teil Ihrer Rede in Deutschland überhört, im stillen Stolz, ein solches Maß an Vertrauen von einem polnischen Außenminister entgegengebracht zu sehen …
Sikorski: Ja, diese Rede war auf der einen Seite ein Ausdruck des großen Vertrauens von polnischer Seite – schließlich habe ich da auch einige Dinge angesprochen, die Deutschland von Polen in einem anderen Kontext vielleicht nicht so leicht akzeptiert hätte. Und ja, in Polen setzt man ein größeres Vertrauen in Deutschland als je zuvor. In jüngster Zeit haben einige polnische Politiker versucht, die antideutsche Karte zu spielen. Aber was früher noch funktioniert haben mag, das scheitert jetzt gänzlich. Das hat zum großen Teil auch mit der Person der Kanzlerin Angela Merkel zu tun. Sie stammt aus dem Osten …

IP: Und weiß deshalb genau, was Transformation bedeutet?
Sikorski: Ja, und außerdem ist sie eine Frau – da fühlen sich ihre männlichen Kollegen nicht so sehr herausgefordert, auf Konfrontationskurs zu gehen. Umgekehrt ist Polen erfolgreicher, reicher und selbstbewusster geworden. Die Wahl von Joachim Gauck zum Bundespräsidenten wird das vertrauensvolle Verhältnis zwischen Deutschland und Polen noch vertiefen, denn für die Rechte, die ja am ehesten geneigt war, die antideutsche Karte zu spielen, ist er ein Held. Und um auf Ihre Frage nach der Führung zu antworten: Deutschland gewinnt den größten Einfluss aus einem einfachen Grund: Es wird immer wohlhabender, wirtschaftlich bedeutsamer, und es ist ein gutes Beispiel, wie man eine moderne Industrieökonomie führt.
Asselborn: Man wird unsere Länder in diesem Punkt wohl nicht vergleichen können – aber Luxemburg war viereinhalb Jahre von Deutschland besetzt, es wurde im vergangenen Jahrhundert zwei Mal von Deutschland überfallen. Ich selbst bin zwar nach dem Zweiten Weltkrieg geboren, aber meinen Eltern und Großeltern fiel es schwer, ein neues Verhältnis zu Deutschland aufzubauen.
Sikorski: Ja, es bedarf wirklich keiner Erwähnung, wie sehr Polen unter deutscher Besatzung gelitten hat.

IP: Festzustellen bleibt: Sobald von einer deutschen Führungsrolle gesprochen wird, ist auch die deutsche Geschichte ein Thema.
Sikorski: Luxemburg hat damit angefangen.
Asselborn: Ich bin ein „natural born European“, weil die EU genau dieses „Nie wieder“ verkörpert, weil sie unsere Garantie ist, als souveränes und freies Land zu überleben. Deutschland betrachte ich nach dem Fall der Mauer durchaus als „normales“ Land – aber als normales Land mit einer besonderen Geschichte, die man nicht einfach ignorieren kann. Das heißt: Deutschland hat eine gewisse Verantwortung über Generationen hinweg. Und was die Führungsrolle betrifft, so würde ich gerne an Helmut Schmidt erinnern, der im November vergangenen Jahres sagte, dass die Zeit für Deutschland noch nicht reif sei, partout ein Primus inter pares zu sein. Mit einer solchen Haltung wäre das Projekt der Integration gefährdet; es wäre fatal, wenn sich in einigen Ländern das Gefühl ausbreiten würde, Deutschland wolle den anderen gewissermaßen seine eigene Mentalität aufdrängen.

IP: Wie steht es dann aber mit einem Reformprozess, für den Radek Sikorski eine deutsche Führungsrolle verlangt hat?
Asselborn: Natürlich hat Deutschland eine riesige Verantwortung innerhalb der EU – würde es Träume von nationaler Größe hegen, dann würde die EU nicht existieren. Für die EU brauchen wir ein engagiertes Deutschland, und ich stimme mit Radek Sikorski überein, wenn er sagt: Wir brauchen Deutschland, um Reformen durchzusetzen – aber im Rahmen der Methode Jean Monnets, also der Gemeinschaftsmethode. Das ist der Kern der Römischen Verträge und der EU. Das Gegenteil der Gemeinschaftsmethode war Deauville im Oktober 2010, als die deutsche Kanzlerin und der französische Präsident versuchten, der Europäischen Union rein deutsche und französische Nationalinteressen aufzuzwingen. Deutschland, wie übrigens Frankreich auch, sollte so etwas vermeiden. Reformbemühungen, die von Deutschland ausgehen, müssen auf mehr Integration abzielen, nicht auf mehr Zwischenstaatlichkeit.

IP: Herr Sikorski, Sie haben immer wieder Vorschläge zu institutionellen Reformen gemacht, etwa den, die Präsidentschaft des Europäischen Rates und die der Europäischen Kommission zusammenzulegen. Wie beurteilen Sie Angela Merkels Rolle, wie glaubwürdig ist es, wenn sie ebenfalls über tiefgreifende Reformen spricht, aber ein solcher Prozess derzeit innerhalb der EU nicht durchsetzbar scheint?
Sikorski: Frau Merkels vorrangige Aufgabe war es zunächst einmal, den Euro zu retten! Und ein großer Teil ihrer Aufmerksamkeit und ihres politischen Kapitals musste genau darauf verwandt werden. Wir fürchten übrigens auch keine deutschen Reformvorschläge, denn wir wissen doch genau, dass Deutschland immer auch andere Aktionäre des Unternehmens EU braucht, um etwas durchsetzen zu können. Die „Zukunftsgruppe“, die sich auf Einladung von Außenminister Westerwelle am 20. März in Berlin getroffen hat, um eine strategische Debatte über ein Europa nach der Schuldenkrise anzustoßen – das war eine ausgezeichnete Idee. Wir brauchen mutigere Ideen. An allem Anfang steht das Wort, die Idee. Und wenn wir die Krise erst ganz überwunden haben, dann wird man von uns Politikern verlangen, die großen Ziele zu definieren.
Asselborn: Was die Frage der Reform der Institutionen angeht, da sind wir vermutlich nicht ganz einer Meinung. 2005, ein Jahr, nachdem ich mein Amt als Außenminister angetreten hatte, haben wir heftig über eine Verfassung für Europa debattiert – und dann haben wir versucht, das gescheiterte Verfassungsprojekt mit dem Vertrag von Lissabon aufzufangen; ein Vertrag, für dessen Zustandekommen wir enorme Energie aufgewendet haben. Ich glaube, dass wir nicht schon wieder tiefgreifende institutionelle Reformen im Rahmen einer Vertragsänderung anfangen sollten. Es wäre ein Fehler, wenn wir jetzt eine Diskussion darüber eröffneten, wie viele EU-Kommissare wir brauchen und ob es eine Personalunion des Kommissions- und des Ratspräsidenten geben sollte. Natürlich teilt nicht jeder in der Union meine Meinung – aber ich bin der festen Überzeugung: Was die Bürger der EU sich jetzt wünschen, sind Politiker, die die Schuldenkrise in der Euro-Zone lösen und für Wachstum und Arbeitsplätze sorgen können. Wir werden auf Unverständnis stoßen, wenn wir jetzt unsere Energie wieder auf die Beschäftigung mit uns selbst konzentrieren.

IP: Herr Sikorski, Sie haben gesagt, Europa brauche jetzt gewagte Ideen und eine strategische Debatte über die Zukunft des Kontinents. Welche Ideen sollte Deutschland hier beisteuern, in welche Richtung sollte es lenken?
Sikorski: Ich glaube, dass wir an der Schwelle zu einer neuen Stufe der Integration stehen, vergleichbar mit dem Schengen-Abkommen und der Bildung eines gemeinsamen Marktes: und zwar auf dem Gebiet der Verteidigung. Der Lissabonner Vertrag ist nicht perfekt, aber er gibt uns die Möglichkeit – nein, er verpflichtet uns zu einer dauerhaften, strukturierten Kooperation in der Verteidigung.
Asselborn: Völlig richtig.
Sikorski: Polen hat sein Bestes versucht, um das Thema Verteidigung unter den 27 Mitgliedsländern voranzubringen – noch sind wir nicht allzu weit gekommen, da Großbritannien bekanntlich skeptisch ist. Aber wir haben durchaus den einen oder anderen praktischen Fortschritt bei unseren Bemühungen erzielt, ein gemeinsames Einsatzzentrum zu schaffen, und wir können jetzt über die Kriterien sprechen, unter denen die EU-Mitgliedsländer sich daran beteiligen können. Dazu gehören die Pro-Kopf-Ausgaben fürs Militär, die Bereitschaft, sich an Auslandseinsätzen und anderen gemeinsamen Projekten zu beteiligen oder sich auf bestimmten Gebieten zu spezialisieren. Dafür braucht man eine Kerngruppe, und um das umzusetzen, sollte man sich nicht an jenen orientieren, die am wenigsten Enthusiasmus mitbringen, sondern an jenen, die das wirklich umsetzen wollen.
Asselborn: Da kann ich nur zustimmen. Eine intensivere Kooperation auf dem Verteidigungssektor bedeutet nicht „mehr Militäraktionen“. Es bedeutet, dass wir ein europäisches Einsatzzentrum brauchen und dass wir unsere Außen- mit unserer Verteidigungspolitik koordinieren müssen.
Sikorski: Und selbst wenn wir weniger Verteidigungsausgaben hätten, so würden wir an Fähigkeiten gewinnen, denn unsere Verschwendung auf diesem Sektor ist phänomenal: Die Verteidigungsausgaben Europas entsprechen denen der USA, aber wir verfügen nur über einen Bruchteil der amerikanischen militärischen Fähigkeiten.
Asselborn: Wenn wir über „Ideen für Europa“ sprechen und über Gebiete, auf denen Deutschland eine wegweisende Rolle spielen kann, so gilt das ganz sicher auch für Energie oder Umweltschutz. In der Außenpolitik aber glaube ich, dass die Lösung des Nahost-Konflikts eine der wichtigsten Prioritäten europäischer Außenpolitik ist. Und die beiden einzigen Länder, die Bewegung in diesen Konflikt bringen könnten, sind die USA und Deutschland. Gerade weil Deutschland aufgrund seiner Geschichte besondere Beziehungen zu Israel pflegt, weil die Sicherheit Israels Teil der deutschen Staatsräson ist, wie die Kanzlerin sagte, sollte es hier mehr Engagement zeigen und die israelische Regierung dazu bewegen, den Siedlungsbau zu beenden und die Verhandlungen mit den Palästinensern wieder aufzunehmen. Solange wir uns nicht in diese Richtung bewegen, ist jede Hoffnung auf Fortschritt illusorisch.

IP: Herr Sikorski, was sind Ihres Erachtens die wichtigsten Prioritäten europäischer Außenpolitik?
Sikorski: Nun, was den Nahen Osten angeht – wenn die Vereinigten Staaten mit all ihrer Hard Power und ihren finanziellen wie politischen Ressourcen nicht in der Lage waren, die beiden Parteien an den Verhandlungstisch zu bringen, dann glaube ich nicht, dass wir das schaffen können. Natürlich sollten wir es weiter versuchen – aber besser keine zu hohen Erwartungen hegen. Wo wir aber wirklich etwas Gewicht haben, das ist in unserer unmittelbaren Nachbarschaft. Hier können wir Handelsprivilegien oder Visaerleichterungen bieten oder sie auch wieder entziehen, wenn wir nicht auf Entgegenkommen stoßen. Anstatt Jahre mit Verhandlungen zu verbringen, sollten wir hier unilateral handeln. In unserer unmittelbaren Nachbarschaft können wir unsere Stärken einbringen.
Asselborn: Haben Sie da nur die östliche Nachbarschaft im Sinn?
Sikorski: Nein, sowohl die östliche als auch die südliche Nachbarschaft.

IP: Sehen Sie die Entwicklung eines strategischen Ansatzes, gerade was die Veränderungen in Nordafrika und im Nahen Osten betrifft?
Sikorski: Die EU ist inhärent unfähig, strategisch zu denken. Denn wir sind wohl oder übel eine Gemeinschaft des Rechts und des Handels, nicht der Geopolitik. Aber wenn Sie meine Meinung hören wollen: Wir sollten eine große Pufferzone schaffen, die durch gemeinsame Standards, durch gemeinsame Freiheiten, durch Zugang zu unseren Märkten mit uns verbunden ist – damit wir weiterhin den Frieden und den Wohlstand genießen können, den wir zu schätzen gelernt haben.

Das Gespräch moderierten Almut Möller und Sylke Tempel

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 3, Mai/ Juni 2012, S. 8-13

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