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01. März 2020

Europas bedrohlicher Nachbar

Der Anspruch auf einen „Schutzgürtel“ blieb unerhört. Seitdem setzt der Kreml auf die ständige Konfrontation mit dem Westen.

Russlands Aggression gegen die Ukraine und die Annexion der Krim waren ein doppelter Schock für den Westen. Unter Bruch zahlreicher völkerrechtlicher Abkommen griff Moskau einen Nachbarn an. Es verstieß gegen ein Prinzip, das von elementarer Bedeutung für Sicherheit und Stabilität im euro-atlantischen Raum ist: die Unverletzlichkeit nationaler Grenzen. Russland hat demonstriert, dass es bereit ist, militärische Gewalt einzusetzen, wenn es dies für die Durchsetzung seiner Interessen für erforderlich und das damit verbundene Risiko für beherrschbar hält. Dieser Tabubruch hat die Sicherheit Europas grundlegend verändert. Die westlichen Nachbarstaaten Russlands fühlen sich unsicher und suchen Schutz vor – statt Kooperation mit – Russland.



Russlands Strategie

Die Art, wie Russland vorging, war der zweite Schock. Die nahezu perfekte Anwendung der im Westen so genannten Strategie der „hybriden Kriegsführung“, eine breite, koordinierte Kampagne aus nichtmilitärischen Mitteln, verdeckten militärischen Maßnahmen und subversiven Aktionen: großangelegte Propaganda und Desinformation; die Mobilisierung und Bewaffnung von Rebellengruppen und deren Steuerung aus Moskau; Cyberangriffe gegen die zivile und militärische Infrastruktur; Einsatz von maskierten Spezialkräften zur Besetzung von Schlüsseleinrichtungen; Aufbau einer Drohkulisse mit Truppenverbänden entlang der Grenze; demonstrative Übungen der Nuklearstreitkräfte und scharfe, einschüchternde öffentliche Rhetorik.

Inzwischen sind weitere Elemente des „hybriden“ Spektrums bekannt geworden: Einmischung in demokratische Wahlen; Erpressungsversuche mit Erdöl- und Erdgaslieferungen; gezielte Verletzungen des Luftraums von NATO-Staaten; militärische Übungen aus dem Stand an den Grenzen der NATO bis hin zu nuklearer Drohung. Alle Elemente des Optionenspektrums werden flexibel genutzt, je nach Lage und Gelegenheit – im Frieden, in einer Krise und im Krieg. Diese „Strategie der aktiven Verteidigung“ (so der russische Generalstabschef Wasilij Gerasimov) ist darauf angelegt, die Grenze zwischen Frieden und Konflikt zu verwischen, die Zuschreibung einer Aggression zu hintertreiben, das Überschreiten der Schwelle zu vermeiden, die als offener militärischer Angriff wahrgenommen würde und militärische Gegenwehr auslösen könnte, und dennoch eine ähnliche Wirkung wie eine militärische Aktion zu erzielen: Überraschung, Verunsicherung, Einschüchterung und Lähmung des Gegners.

In jüngster Zeit hat Russland noch ein weiteres Element hinzugefügt. Unter Bruch des INF-Vertrags von 1987 hat es neue landgestützte, nuklearfähige Mittelstreckenwaffen aufgestellt. Erstmals seit fast 30 Jahren können weite Teile Europas wieder von Russlands Boden aus atomar bedroht werden. Als Kernelement seiner Strategie hat Russland seine Streitkräfte systematisch modernisiert und den Verteidigungsetat bis 2016 ständig erhöht. Nach Angaben des Londoner International Institute for Strategic Studies lag er 2017 bei 62,4 Milliarden Dollar (was einer Kaufkraft in Russland von 162 Milliarden Dollar entspricht). Rund 40 Prozent fließen in modernes Großgerät. Einsatzbereite Verbände der Landstreitkräfte von rund 60 000 Mann können rasch überallhin verlegt werden. Alle zwei Jahre wird in der Großübung ZAPAD der Krieg gegen den Westen geübt.

Zwar könnte Russland einen langen Krieg gegen die NATO derzeit nicht bestehen, aber es ist dabei, sich gegenüber dem Baltikum eine militärische Übermacht zu verschaffen. Dies bietet die Option, mit einem raschen regionalen Angriff, ergänzt durch Cyberattacken und Desinformationskampagnen, vollendete Tatsachen zu schaffen – untermauert durch die Drohung mit weitreichenden konventionellen oder nuklearen Schlägen gegen europäische Hauptstädte und kritische zivile und militärische Infrastruktur, die für Aufmarsch und Verteidigung wesentlich sind. Eine solche Lage könnte den Verteidigungswillen der Europäer lähmen, die Amerikaner veranlassen, sich herauszuhalten, und die NATO zum Aufgeben zwingen – aus Furcht vor nuklearer Eskalation. Die neue Lage hat große Unruhe in der NATO ausgelöst.

Und schließlich hat Moskau mit seinem Eintritt in den Krieg in Syrien seinen antiwestlichen Aktionsradius noch erweitert. Es hat gezeigt, dass es zu militärischer Machtprojektion auch über strategische Entfernung in der Lage ist. Es ist in eine Lücke gestoßen, die die USA hinterlassen, und hat sich im Nahen Osten dauerhaft als wichtiger Akteur etabliert – als Schutzmacht autokratischer Herrscher, nicht als Friedensstifter.



Perzeptionen, Motive und Interessen

Im Westen wundert man sich über die Motive der russischen Führung. Auch die russischen Strategen wissen, dass von Europa keine militärische Gefahr für Russland ausgeht. NATO- und EU-Erweiterung haben Osteuropa stabilisiert und befriedet. Die Selbstverpflichtung der NATO-Russland-Grundakte von 1997 gilt weiter: In den östlichen Mitgliedstaaten stationiert die NATO weder Nuklearwaffen noch permanent substanzielle Kampftruppen.

Das strategische Denken und Handeln der russischen Führung ist am besten mit einer Mischung aus offensiven und defensiven Elementen zu erklären, die ihren Ursprung in der Geschichte und geografischen Lage haben. Sie definiert sich in politischer und kultureller Abgrenzung und Gegnerschaft zum Westen. Man kann vier Grundüberzeugungen identifizieren, die sich überlappen und einander verstärken:

  • Mit allen Mitteln muss der Bestand des Herrschaftssystems gesichert werden, angeblich aus Sorge um Russlands Stabilität und Sicherheit. Demokratie und wirtschaftlicher Aufschwung in der Ukraine, in der Millionen Russen leben, wären für Putins Herrschaft eine existenzielle Gefahr. Die „Farben-Revolutionen“ dort und in Georgien hatten „rote Linien“ überschritten; sie mussten schließlich gewaltsam unterbunden werden.
  • Wegen seiner imperialen Geschichte und seiner nuklearen Macht habe Russland einen natürlichen Anspruch, als privilegierte Großmacht respektiert zu werden und entsprechend zu agieren, auf Augenhöhe mit den USA und als deren Rivale. „Gleiche Sicherheit“ gibt es nur zwischen Großmächten. Institutionell verfasste gleiche Sicherheit für große und kleine Staaten, wie NATO und EU sie gewähren, ist dem Denken der russischen Führung fremd.
  • Nur ein starker Staat mit einer zentralen Macht, der „Vertikale der Macht“ (Wladimir Putin), könne das riesige Land mit mehr als 130 Ethnien zusammenhalten und sichern.
  • Die Ausdehnung Russlands mit einer über 20 000 Kilometer langen Landgrenze, die kaum gesichert werden kann, begründet eine tiefsitzende Furcht vor Invasion und Einkreisung, aus der sich ein schier unstillbares Bedürfnis nach absoluter Sicherheit ergibt. Gefahren müssen weit außerhalb des russischen Kernlands abgewehrt oder zumindest unter Kontrolle gehalten werden.

Alle diese Faktoren haben Russland seit jeher veranlasst, sich mit einem mehrstufigen Schutzgürtel zu umgeben. Geostrategisch erfüllten diesen Zweck die Sowjetrepubliken und die Warschauer-Pakt-Staaten, ergänzt durch „blockfreie“ Staaten in Europa. Der empfundene Verlust der Pufferzone nach dem Zerfall der Sowjetunion wurde aus Sicht Moskaus noch verschärft durch den Beitritt der Osteuropäer zur NATO. Moskaus Insistieren auf „privilegierten Interessen“ im „nahen Ausland“ blieb ohne Erfolg.

Seither sucht Moskau den Effekt eines Schutzgürtels mit anderen Mitteln zu erreichen. Was der Ausdehnung russischer Kontrolle in Europa entgegensteht, sind EU und NATO. Ihr Zusammenhalt muss unterminiert, ihre Handlungsmöglichkeiten müssen blockiert werden. Dann kann sich russische Kontrolle über Europa wie von selbst entfalten. Darauf zielt Russlands „hybride“ Strategie. Aus vermeintlichem Selbstschutz wird Aggression.

Die NATO hat daher seit 2014 ihre Hauptaufgaben Abschreckung und kollektive Verteidigung revitalisiert. Seitdem wurden die Reaktionsfähigkeit der Allianz und die Einsatzbereitschaft ihrer Streitkräfte signifikant verbessert und die nukleare Abschreckung gestärkt. Bei der Ausgestaltung ihrer Strategie stellt das Bündnis aber die Perzeptionen der russischen Führung in Rechnung. Das Dispositiv der NATO wird gestärkt, bleibt aber defensiv. Ihre Maßnahmen sind ausgewogen und verhältnismäßig, nicht exzessiv. Von ihnen geht keine Bedrohung für Russland aus, wohl aber die Botschaft, dass Nötigung unwirksam bliebe, ein Angriff keinen durchgreifenden Erfolg hätte, die Nachteile größer als der erhoffte Gewinn wären und er im Extremfall einen für Russland inakzeptablen Schaden zur Folge haben könnte.

Einige Beispiele: Statt auf ständige Vornestationierung von größeren Verbänden an ihrem Ostrand setzt die NATO auf rasche Verstärkung von Verbündeten, würden sie bedroht. Und die Präsenz multinationaler NATO-Streitkräfte in den baltischen Staaten und Polen ist auf je eine multinationale Battlegroup begrenzt. Sie sind aber sofort einsatzbereit. Selbst im Falle eines begrenzten Einfalls geriete Moskau sofort mit der gesamten NATO in einen militärischen Konflikt, einschließlich der drei Nuklearmächte USA, Frankreich und Großbritannien – Abschreckung in nuce.

Auch hält die NATO am regelmäßigen Dialog mit Moskau im NATO-Russland-Rat fest, und die militärischen Oberbefehlshaber tauschen sich aus. Missverständnisse sollen vermieden, Risiken minimiert werden. Ebenso bekennt sich die Allianz zu einem Neuanfang in der Rüstungskontrolle in Europa. Derzeit gibt es aber keinen Anreiz für den Kreml, in ernsthafte Verhandlungen einzutreten.



Der China-Faktor

Derweil verstärken sich die Hinweise auf eine engere Kooperation zwischen Russland und China – eine „strategische Partnerschaft“. Die Kooperation der beiden autokratischen Großmächte ist für die westliche Gemeinschaft eine doppelte strategische Herausforderung. Amerika sieht in China seinen Hauptkontrahenten und verlegt seinen strategischen Schwerpunkt nach Asien. Dies könnte Moskau zu einem risikoreicheren Vorgehen im Westen ermutigen.

Die Europäer müssen also viel mehr für die Sicherheit Europas tun, in NATO und EU. Präsident Emmanuel Macrons Aufruf, gemeinsam eine Strategie für die künftigen Beziehungen zwischen Europa und Russland zu entwickeln, ohne dessen Revisionismus und Rechtsbruch zu legitimieren, sollten die Verbündeten folgen. Europa und Russland teilen einen gemeinsamen geopolitischen Raum. Geografie ist Schicksal, soll Napoleon gesagt haben.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 2, März/April 2020, S. 48-51

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Heinrich Brauß

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