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01. Sep 2015

Eine Region vor der Zerreißprobe

Wie der Nahe Osten künftig aussehen könnte

Ist der Aufmarsch des „Islamischen Staates“ zu stoppen? Was wird aus Syrien, was aus dem Irak? Prognosen für eine unberechenbare Region sind schwer zu stellen. Doch eins scheint sicher: Ohne eine Machtteilung, die alle relevanten Kräfte einbindet, und ohne glaubwürdige Regierungen werden die politisch und identitär zerklüfteten Länder zerfallen.
Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Suhrkamp Verlag Berlin 2015.

Vieles spricht dafür, dass der so genannte Islamische Staat, im Irak und in Syrien jedenfalls, durch das militärische Eingreifen internationaler und regionaler Akteure geschwächt und an einigen Fronten zumindest zurück­gedrängt werden kann. Es ist denkbar, dass die irakische Armee Mosul zurückerobert oder sogar schon erobert hat, wenn dieses Buch erscheint.

Die Anziehungskraft des IS dürfte nachlassen, je weniger er in der Lage ist, die Versorgung der Bevölkerung und die wichtigsten Dienstleistungen in den von ihm beherrschten Gebieten sicherzustellen. Auch eine Vertreibung des IS aus Mosul oder aus anderen irakischen Städten böte jedoch allenfalls eine Chance für inneren Frieden und Stabilität im Irak, garantiert die Wiederherstellung der inneren Einheit des Landes aber nicht.

Ebenso wäre der syrische Bürgerkrieg mit dem Zerfall der IS-Herrschaft im Osten Syriens wohl kaum beendet. Der anhaltende Aufstand eines Teiles der syrischen Bevölkerung gegen das Regime ist eben nicht durch die Terrorherrschaft des IS in Raqqa oder Deir ez-Zor ausgelöst worden. Vielmehr haben Bürgerkrieg, Staatszerfall und nicht zuletzt die anhaltende militärische Gewalt des Regimes gegen „oppositionelle“ Städte, Stadtteile und Regionen es überhaupt erst möglich gemacht, dass der IS sich in Teilen des Landes ausbreitete, festsetzte und dass er bis heute weiteren Zulauf erhält. Dies kann auch in der Umgebung oder in Vierteln der Hauptstadt Damaskus geschehen.

Insofern wäre es richtiger, darauf zu setzen – auch hier gibt es allerdings keine Garantien –, dass ein Ende des Bürgerkriegs und die Einigung auf eine glaubwürdige Übergangsregierung es möglich machen könnten, effektiv gegen den IS vorzugehen und die Bürger in diesen Gebieten für den Staat zurückzugewinnen.

Die Fragilität von Staaten, die wir ja nicht nur in Syrien oder im Irak, sondern auch im Jemen oder in Libyen erleben, hat wenig mit der Schwäche von Sicherheitsapparaten oder fehlenden Ressourcen zu tun, sehr viel jedoch mit einem Mangel an Inklusion. Wo immer wir in der arabischen Welt oder auch in benachbarten Regionen Staaten scheitern sehen, wo immer Dschihadisten vom Schlage des IS in der Lage sind, Raum zu kontrollieren, liegt zumindest eine Ursache in der politischen oder wirtschaftlichen Marginalisierung von Teilen des Landes und Teilen der Bevölkerung, oft entlang tribaler, ethnischer, sozialer, konfessioneller oder regionaler Linien.

In Syrien und im Irak, aber auch in Ländern wie der Türkei, in Saudi-Arabien, in Bahrain oder im Jemen haben Teile der Eliten zudem bestehende religiöse, konfessionelle oder ethnische Bindungen als Mittel der politischen Mobilisierung genutzt – und damit die so gern beschworene nationale Einheit in ihren eigenen Staaten unterminiert oder Konflikte in anderen Ländern angeheizt.

Dies heißt auch, dass ohne eine Form der Machtteilung, bei der alle Bevölkerungsgruppen sich vertreten sehen, in Syrien und im Irak allenfalls fortgesetzte Gewalt und territoriale Abspaltungen, aber keine haltbare Wiederherstellung von Staatlichkeit und innerem Frieden zu erwarten ist.

Macht teilen

Eine relativ sichere Prognose lautet, dass weder Syrien noch der Irak – der sich bereits eine föderalistische Verfassung gegeben hat – als zentralistische Staaten und schon gar nicht als autoritär regierte Einparteienstaaten in ihren heutigen Grenzen wiederentstehen werden. Machtteilung kann sehr verschiedene Formen annehmen, die sich sinnvollerweise auf ­lokale Erfahrungen gründen: breite ­Koalitions- oder Einheitsregierungen, parlamentarische Sperrminoritäten oder zweite Kammern, die Regionen oder Religionsgemeinschaften repräsentieren, unterschiedliche Spielarten der Dezentralisierung und Selbstverwaltung. Dabei geht es selbst­verständlich nicht nur um die politische Repräsenta­tion in nationalen Gremien, sondern auch um die Teilhabe an wirtschaftlicher und sozialer Entwicklung.

Politische Reformen, die die Ursachen der Konflikte angehen, insbesondere die selbstherrliche Haltung der Führungseliten, die den Staat als ihr Eigentum zu betrachten scheinen, müssten folgen. Im Jemen und in Libyen gilt prinzipiell das Gleiche: Ohne Formen der Machtteilung, die alle relevanten Kräfte einbinden, und ohne glaubwürdige Regierungen werden solch politisch und identitär zerklüftete Länder zerfallen.

Nicht alle Staaten in der Region sind in dieser Form zerrissen. In Ägypten wird es eher darum gehen, dass substanzielle Wählergruppen, die sich am ehesten von moderat islamistischen Parteien wie der Muslimbruderschaft vertreten sehen, wieder eine Stimme bekommen. In Marokko, Jordanien, Tunesien, auch in Algerien nach dem Bürgerkrieg haben entsprechende Parteien sich in das politische Gefüge einbauen lassen und damit zur Stabilisierung des Gemeinwesens beigetragen. Im Iran wird sich zeigen, ob das Land reformfähig genug ist, um auch seiner jungen, gut ausgebildeten und weltoffenen Mittelschicht eine Perspektive zu bieten. Saudi-Arabien wäre für die Zukunft besser gerüstet, wenn es Bürger und Bürgerinnen als solche behandeln würde – unabhängig von Geschlecht oder Konfession. Das Risiko für diese Staaten liegt nicht im Zerfall, sondern in einer Form politischer und gesellschaftlicher Stagna­tion, die möglicherweise erst durch Massenproteste aufbricht – wie 2011 in Ägypten und anderen Ländern.

In Syrien werden die Menschen – oder konkreter: Vertreterinnen und Vertreter der unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen – irgendwann entscheiden müssen, ob und in welcher Form sie weiter gemeinsam in einem Staat leben wollen. Dies könnte im besten Fall, und vielleicht nicht nur im abstrakten Sinn, zu einer Art Gesellschaftsvertrag führen.

Jeder Bürgerkrieg endet irgendwann – und zwar entweder durch den Sieg einer Kriegspartei, durch einen Kompromiss oder durch allgemeine Erschöpfung. Keine der syrischen Parteien ist heute stark genug, um über die andere oder die anderen zu siegen, und die Bevölkerung ist erschöpft. Der Krieg in Syrien ist aber mittlerweile ein regionalisierter Konflikt geworden. Es ist kein Stellvertreterkrieg im klassischen Sinn, wohl aber ein Konflikt, in dem alle Parteien Unterstützung von außen erwarten und regionale Spannungen den Krieg weiter befeuern. Ohne eine Entspannung zwischen Iran und Saudi-Arabien ist deshalb auf absehbare Zeit in Syrien keine Konfliktlösung zu erwarten, werden auch Bemühungen noch so vieler Emissäre der Vereinten Nationen nichts fruchten.

Geist des Konfessionalismus

Ohne Entspannung zwischen Riad und Teheran wird sich auch das Gift der Konfessionalisierung weiter verbreiten, das die Konflikte nicht nur in Syrien, sondern auch im Irak, potenziell im Libanon und im Jemen anheizt. Hier ist es ein wenig wie mit dem Geist aus der Flasche: Man kann das konfessionelle Motiv zur Mobilisierung nutzen, den freigesetzten Konfessionalismus aber kaum wieder einfangen. In Syrien und im Irak erleben wir, wie sehr Hass und, wichtiger noch, Angst vor der Rache und dem Hass der jeweils anderen Seite die konfessionelle Polarisierung unterstützen. Das Narrativ vom konfessionellen Krieg zwischen Sunniten und Schiiten hat sich mittlerweile so weit verselbständigt, dass jede neue Aus­einandersetzung, im Jemen beispielsweise, unmittelbar als sunnitisch-schiitischer Krieg oder Stellvertreterkrieg verstanden wird, auch wenn dort andere Konfliktlinien sehr viel tiefer schneiden.

Politisch ist es sinnvoll, nach den Bedingungen zu fragen, die notwendig sind, um die Bürgerkriege zu beenden und die betroffenen Staaten wieder zusammenzubauen. Nur sollte man sich nicht darauf verlassen, dass diese auch eintreten. Zu den denkbaren, wenngleich absolut nicht wünschenswerten Szenarien gehört auch das einer weiteren Fragmentierung. Dies könnte beinhalten, dass Syrien, das derzeit schon mindestens vier­geteilt ist, in mehrere quasisouveräne Einheiten zerfällt, darunter ein Alawitenstaat an der Küste, ein syrisch-kurdischer Ministaat im Nordosten, ein auf Teile Ostsyriens und des westlichen Irak zusammengeschrumpftes „Kalifat“, vielleicht eine autonome Region Aleppo und eine Republik Damaskus oder, schlimmer noch, eine auf Jahre geteilte und weitgehend zerstörte nominelle Hauptstadt, in der sich Regimemilizen und Kämpfer des IS in je unterschiedlichen Vierteln eingerichtet haben.

Irakisch-Kurdistan wäre unabhängig, seine Grenzen zum Irak, vielleicht auch zu den kurdischen Gebieten in Syrien, würden aber umstritten bleiben. Im Zentralirak könnten eine autonome Sunnitisch-Irakische Region oder mehrere konkurrierende Emirate entstehen. Auch im Jemen und in Libyen wäre eine Zwei- bis Dreiteilung zu erwarten. Der Gaza-Streifen bliebe eine faktisch autonome Republik unter der Herrschaft der Hamas; die palästinensische Westbank wäre formal der Sitz eines Staates Palästina, faktisch aber eine Ansammlung einzelner, nicht einmal geografisch zusammenhängender Gemeinden unter israelischer Oberhoheit.

Keiner der genannten Staaten würde sauber zerfallen, etwa auf der Basis alter osmanischer Provinzen oder entlang der Grenzen, die unter französischer Mandatsherrschaft einst in Syrien festgelegt worden waren. Ägypten, Iran, die Türkei und Saudi-Arabien könnten ihre territoriale Integrität bewahren, würden aber auf längere Zeit in die Konflikte innerhalb und zwischen den vielen aus den alten Staaten herausgebrochenen Einheiten hineingezogen werden. Die USA, die Europäische Union, Russland, China und Indien würden sich aus diesen Konflikten herauszuhalten versuchen, solange ihre eigenen Interessen nicht massiv gefährdet sind.

Aber auch dies ist nur ein grob gezimmertes und unvollständiges Szenario. Wir wissen einfach nicht, wohin die Region und die einzelnen Länder sich entwickeln. Wo immer wir es mit Ungewissheiten großen Maßstabs zu tun haben, werden lokale und externe Beobachter historische Analogien bemühen. Dabei geht es gar nicht darum, ob diese Analogien „exakt“ sind – sie sind es natürlich nicht! –, sondern allenfalls darum, ob sie als heuristische Hilfsmittel dienen können, um über entscheidende Aspekte möglicher Zukünfte nachzudenken, solche, die man sich wünscht, und solche, die man lieber vermeiden möchte.

Grand Design für die Region?

Eine vor allem in der regionalen Diskussion verbreitete Analogie ist die zum Sykes-Picot-Abkommen. Wo immer sie bemüht wird, geht man davon aus, dass die großen Mächte der Welt ein Grand Design für die Region haben, mit dem sie ihre Interessen dort durchzusetzen versuchen werden. Regionale Akteure haben demnach ihre Rolle, sind aber letztlich nur Figuren auf dem großen Spielbrett der Weltpolitik. Insofern werden auch die Verhandlungen der USA und anderer internationaler Mächte mit dem Iran und die Mächtekonstellationen im Kampf gegen den IS gelegentlich als Elemente oder Vorboten einer von außen oktroyierten Neuordnung der Region, eines neuen „Sykes-­Picot“, interpretiert. Dass die Großmächte sich weitgehend heraushalten könnten, ist in diesem gedanklichen Rahmen schwer vorstellbar.

Zwei andere Analogien, die historisch und geografisch weiter zurückgreifen, sich aber dennoch aufdrängen, sind die zum Dreißigjährigen Krieg (1618 bis 1648) und die zum Wiener Kongress (1814/1815). Die Dreißigjähriger-Kriegs-Analogie ist angesichts der konfessionellen Pola­risierung im Nahen Osten schon ge­legentlich gezogen worden:1 Die verschiedenen Lager werden über ihre Zugehörigkeit zu einer der beiden großen Konfessionsgemeinschaften definiert, auch wenn es nicht in erster Linie um Religion, sondern um die Interessen von größeren und kleineren Mächten geht, die aus Opportunitätsgründen, wenn nötig, sehr wohl über ihren konfessionellen Schatten springen können. Ein Teil der Akteure ist tatsächlich religiös motiviert.

Die Auseinandersetzung überspannt eine ganze Region, auch wenn sie nicht in allen Ländern und nicht überall gleichzeitig ausgetragen wird. Einige Staaten sind primär durch Soldaten und Söldner beteiligt. Was Bürgerkrieg und was internationaler Krieg ist, lässt sich nicht immer präzise auseinanderhalten. Die Zonen faktischer Herrschaft, die Staaten, freie Städte, religiöse Autoritäten, Heere, Milizen oder Räuberbanden über Personen und Territorien ausüben, überlappen einander oft genug.

Die meisten Länder, besonders die im Zentrum des Orkans, erleiden enorme Verluste und werden in ihrer demografischen und wirtschaftlichen Entwicklung um Jahrzehnte zurückgeworfen. Vor allem aber, und hier liegt die dunkle Vorahnung der Analogie, dauert der Krieg eben selbst drei Jahrzehnte länger als eine Generation.

Die Analogie zum Wiener Kongress verweist vor allem auf zwei Aspekte: darauf, dass sich nach einer Phase von Revolution und Krieg die großen Mächte der betroffenen Region zusammenfinden, um eine konservative Ordnung zu retten beziehungsweise wiederherzustellen, aber auch auf die intensive und vor allem inklusive Konferenzdiplomatie, die zwar nicht alle Parteien gleich behandelt, aber alle Antagonisten an den Tisch bringt, um einen haltbaren Konsens zu finden.

Es geht um unterschiedliche, mit­einander verwobene Konfliktsituationen; die Verhandlungen brauchen Zeit, und sie zielen auf einen Ausgleich ab, bei dem keine relevante Partei als Verlierer dasteht und deshalb später auch nicht nach Revision und Revanche strebt. Dabei entsteht dann ein rudimentäres, wie man heute sagen würde, regionales Sicherheitssystem: eine Regionalordnung, die durch das „Konzert“ der regionalen Großmächte aufrechterhalten wird.

Auf den heutigen Nahen und Mittleren Osten bezogen würde dies heißen, dass Saudi-Arabien und Iran sich gemeinsam mit anderen wichtigen Regionalstaaten wie der Türkei, Ägypten oder den Vereinigten Arabischen Emiraten um Konfliktbeilegung bemühen und als Garanten einer inklusiven Ordnung verstehen müssten. Dies könnte es auch erlauben, in Sy­rien einen Friedensprozess auf den Weg zu bringen, der von der regionalen Staatengemeinschaft unterstützt wird. Eine Machtteilung in Libyen oder im Jemen wird ebenfalls nur gelingen, wenn die regionalen Vormächte gemeinsam von allen Versuchen Abstand nehmen, der einen oder anderen Konfliktpartei militärisch zum Sieg zu verhelfen.

Wie alle Analogien hilft auch diese nur, bestimmte Aspekte einer historischen Situation hervorzuheben. Als Blaupause für die Zukunft taugt sie nicht. Die Analogie zum Wiener Kongress ist mit Blick auf die heutige Situation im Nahen und Mittleren Osten schon deshalb unvollständig, weil gesellschaftliche Akteure darin keine Rolle spielen. Diese sind aber, spätestens seit den Protesten und Aufständen von 2011, aus der realen Politik der Region nicht mehr wegzudenken.

In allen Staaten der Region, auch da, wo Protest und Reformforderungen unterdrückt worden sind, ist eine neue Form der Öffentlichkeit entstanden, die sich zumindest über das Internet und die sozialen Medien zu Wort meldet. Öffentlichkeit ist dabei nicht gleich Opposition, sie steht auch nicht überall für eine Forderung nach Demokratie oder politischer Transformation. Wohl aber gibt es flächen­deckend ein gestärktes Bewusstsein dafür, dass Bürgerinnen und Bürger Rechte haben, vor allem ein Recht darauf, anständig regiert zu werden. Und dass, wo dies nicht geschieht, Regime auch stürzen können.

Prof. Dr. Volker Perthes ist Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik. Der Text ist ein Auszug aus seinem neuen Buch „Das Ende des Nahen Ostens, wie wir ihn kennen“ (Suhrkamp Verlag 2015).
 

  • 1Vgl. etwa Greg. R. Lawson: A Thirty Years’ War in the Middle East, The National Interest, 16.4.2014; Richard Haass: The New Thirty Years’ War, Project Syndicate, 21.7.2014.
Bibliografische Angaben

Internationale Politik 5, September/Oktober 2015, S. 38-43

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