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01. Nov. 2012

„Die wichtigsten Entscheidungen in der Euro-Krise wurden intuitiv getroffen“

Daniel Kahneman über die Illusion, gänzlich rational zu entscheiden

Der Mensch ist das einzige, nun ja, mit Vernunft begabte Lebewesen der Welt. Also trifft er wohl von Vernunft geleitete Entscheidungen. Falsch. Kaum wahrgenommene Vorprägungen und Stimmungen beeinflussen uns mehr, als uns lieb sein kann. Deshalb gilt: Anstatt Entscheidungen zu bewerten, sollten wir lieber für eine optimierte Entscheidungsfindung sorgen.

IP: Herr Kahneman, wie treffen wir Entscheidungen?
Daniel Kahneman: Auf jeden Fall nicht so, dass wir erst die Sachargumente prüfen und dann unsere Grundüberzeugungen in die Entscheidungsfindung einbeziehen. Wenn überhaupt, dann funktioniert es vermutlich andersherum. Wir glauben an etwas und erst danach ziehen wir die Sachargumente hinzu, die unsere Annahme stützen.

IP: Wir finden Gründe, um zu rechtfertigen, was wir ohnehin tun wollen?
Kahneman: Im Grunde ja. Wenn es einen rationalen Entscheidungsprozess gibt, dann wird das im Allgemeinen die Qualität der Entscheidung schon erhöhen. Ich vermute jedoch, dass bei wirklich schwerwiegenden Entscheidungen – solchen wie Staatsoberhäupter sie treffen müssen – paradoxerweise Intuition wichtiger ist als Analyse. Dabei gibt es natürlich auch Zwischenstufen. Nehmen wir nur mal die Entscheidungen in Sachen Euro: Einige davon basieren auf Studien und Analysen, doch die wirklich ausschlaggebenden wurden intuitiv getroffen. Das trifft auf die Wirtschaft und viele andere Bereiche zu, wo Analysen zwar eine wichtige Rolle spielen. Sie verlieren aber an Bedeutung, wenn es um einzelne Entscheidungen von großer Wichtigkeit geht.

IP: Sie haben sich auch damit beschäftigt, wie sich Stimmungen, aber auch Übermüdung auf Entscheidungen auswirken. Und dass es schwerer wird, eine gewisse Konzentration aufrechtzuerhalten, wenn in kurzer Zeit viele Entscheidungen getroffen werden müssen. Ist es da nicht bedenklich, nach einem Verhandlungsmarathon, der bis in die frühen Morgenstunden dauert, noch Entscheidungen zu treffen, wie das ja regelmäßig bei wichtigen Gipfeln geschieht?
Kahneman: Da bin ich mir nicht sicher. Das könnte eher ein Problem der Verhandlungskultur als der Entscheidungsfindung sein. Wenn eine Übereinkunft gefunden werden muss, sind erschöpfte Verhandlungspartner eher bereit, diese auch zu treffen, als wenn sie ausgeruht und erpicht darauf sind, den größtmöglichen Vorteil aus der Situation zu ziehen. Wenn man sehr müde ist, verlieren einige Dinge an Bedeutung, also ist es vermutlich leichter, Zugeständnisse zu machen.

IP: Wie sieht das außerhalb von Verhandlungssituationen aus? Wir stellen uns vor, dass Machthaber einen langen Arbeitstag haben, Entscheidungen über Entscheidungen von enormer Wichtigkeit treffen und ständig unter Stress und Zeitdruck stehen. Wie beeinflusst das ihre Entscheidungen?
Kahneman: Für wichtige Angelegenheiten finden unsere Entscheidungsträger normalerweise schon ausreichend Zeit. Sie verfügen über hervorragende Mitarbeiter, und der Prozess der Entscheidungsfindung ist sinnvoll aufgebaut. Ich vermute, dass die Fähigkeit der Machthaber, diesen Prozess zu strukturieren, variiert. Es sei denn, Entscheidungen müssen wirklich sehr schnell gefällt werden. Der Entscheidungsprozess vor dem Überraschungsangriff auf Osama Bin Laden hat Monate in Anspruch genommen. Natürlich war es der Präsident, der am Ende die Entscheidung treffen musste, und Obama traf sie gegen die Ratschläge der meisten seiner engsten Berater. Aber sie war nicht übereilt. Wir können davon ausgehen, dass jede Eventualität sorgfältig geprüft wurde. Nicht einbeziehen kann man natürlich die Überraschungen, die sich vor Ort ergeben.

IP: Ist die Kommandoaktion gegen Bin Laden nicht ein perfektes Beispiel für eines der Probleme, die Sie nennen? Wir denken heute, dass es eine gute Entscheidung war – weil der Einsatz erfolgreich war.
Kahneman: Ja, das ist absolut richtig. Es würde anders aussehen, wenn der Einsatz nicht gelungen wäre. Interessanterweise bekommt man zwar Anerkennung für gelungene Aktionen, aber hier liegt ein Missverhältnis vor: Die Kritik an verfehlten Entscheidungen, an Dingen, die schiefgelaufen sind, ist wesentlich größer als die Würdigung von Erfolgen.

IP: Wenn Entscheidungsträger damit rechnen können, mehr Kritik für schlechte als Lob für gute Entscheidungen zu erhalten, werden sie dann nicht zögerlicher?
Kahneman: Mit Sicherheit. Doch die Menschen, die sich in Positionen befinden, in denen sie tatsächlich große Entscheidungen zu fällen haben, sind im Grunde eine ganz spezifische Gruppe, die sich vom Durchschnittsbürger unterscheidet. Die meisten psychologischen Forschungen basieren auf dem Verhalten des Durchschnitts. Menschen in Führungspositionen sind jedoch optimistischer und selbstbewusster als die meisten. Das ist ein Grund, warum sie in diese Positionen gelangt sind. Dass wir nach einer Entscheidung eines Besseren belehrt werden könnten, gibt natürlich Anlass zur Vorsicht, wenn es nicht sogar lähmend wirkt. Was auch immer man tut – man wird es hinterher besser wissen. Es gibt also eine Asymmetrie zwischen dem vorher und dem nachher verfügbaren Wissen, die dazu verleiten könnte, eben gar nichts zu tun. Wir tendieren dazu, Menschen für nachteilige Konsequenzen verantwortlich zu machen und wir finden es im Allgemeinen unverzeihlicher, wenn Menschen tatsächlich etwas unternommen oder eine Änderung herbeigeführt haben – vor allem, wenn es sich um etwas Ungewöhnliches handelt – als wenn sie überhaupt nichts getan hätten.

IP: Sie unterteilen die Bereiche, die unsere Entscheidungsfindung steuern, in ein eher intuitives „System 1“ , das von emotionalen Reaktionen und kognitiven Verzerrungen gesteuert wird. „System 2“ ist dagegen gekennzeichnet von eher mühseliger und verlangsamter Abwägung. Nur: Der größte Teil auch unserer wichtigen Entscheidungen wird vom schnellen „System 1“ getroffen.
Kahneman: Zweifellos. Wir sind uns unserer Gründe bewusst und wir nehmen an, dass sich unsere Überzeugungen aus ihnen herleiten. Das ist falsch.

IP: Wir gehen also davon aus, dass wir schon über ausreichend Wissen und Verständnis verfügen – was aber gar nicht der Fall ist. Und für diese kognitive Falle sind Experten anfälliger als andere?
Kahneman: Nun, sie wissen mehr als andere. Aber sie wissen vielleicht nicht, wie begrenzt ihre Sachkenntnis sein könnte. Dafür führe ich gerne das Beispiel eines klinischen Psychologen an, der – wie viele seiner Kollegen – außerordentlich gut darin ist, vorherzusehen, was während einer Therapiesitzung passieren wird. Nur können auch die besten klinischen Psychologen überhaupt nicht gut einschätzen, was in zehn Jahren mit dem Patienten geschehen könnte. Ihr Fachwissen und ihre große Erfahrung aus den Sitzungen geben ihnen das Gefühl, die Person zu verstehen und Aussagen darüber treffen zu können, wie sie sich entwickeln wird. Aber solche Aussagen sind mit hoher Wahrscheinlichkeit falsch.

IP: Wie könnten die Erkenntnisse aus der Psychologie und der Verhaltensökonomie in der Außenpolitik genutzt werden?
Kahneman: Verhaltensforschung, also generell das, was wir Verhaltensökonomie nennen und was vor allem Sozialpsychologie ist, soll die Qualität von Entscheidungen verbessern, den Zugang zu Informationen erleichtern und uns vor unseren eigenen Fehlern schützen. Ich hatte den Vorschlag gemacht – aber natürlich ohne die große Zuversicht, dass man das sofort umsetzen wollte oder könnte – dass jede Organisation, in der wichtige Entscheidungen getroffen werden, einen Kontrollmechanismus nicht nur für den Inhalt, sondern für das ganze Verfahren einführt. Dabei sollte man überprüfen, wie gut die Qualität der Informationen ist, die zur Verfügung stehen; man muss für die Wahrung der Unabhängigkeit solcher Personen sorgen, deren Ansichten sich von der vorherrschenden Meinung unterscheiden, und Dissens ermutigen und schützen. Institutionen und Organisationen könnten einiges tun, um die Qualität ihrer Entscheidungsfindung zu erhöhen. Das schließt selbstverständlich auch die Außenpolitik ein.

IP: Vor einiger Zeit haben Sie einen Artikel veröffentlicht, der sozialpsychologische Forschung mit Außenpolitik verknüpft. Ihre These ist: Es gibt eine in unserem Denken fest verankerte „Verzerrung“, die uns eher einer harten Linie zuneigen lässt, eine, wie Sie das nennen, „Bevorzugung der Falken“. Wie funktioniert das?
Kahneman: Die Recherche ist eher einem Zufall zu verdanken und die Geschichte dahinter ist folgende: 1973, vor dem Ausbruch des Jom-Kippur-Kriegs, hatte ich in Israel einen Vortrag gehalten, der sich der Frage widmete, ob die strategische Situation Israels Ägypten zu einem Krieg provozieren könnte. Jahrzehnte später wurde ich wieder dorthin eingeladen – und so beschloss ich, für den „neuen Vortrag“ alle Arbeiten aus den vergangenen 40 Jahren auszuwerten, die sich mit kognitiven Verzerrungen beschäftigen. Ich wollte wissen, wie diese Verzerrungen unsere Beurteilungen beeinflussen und welche Verzerrungen ein Staatsoberhaupt dazu tendieren lassen, einen bestimmten Rat einem anderen vorzuziehen. Zu meiner Überraschung stellte ich fest, dass diese „Vorprägungen“ fast immer dazu führen, dass „Falken bevorzugt“ wurden. Das traf eigentlich auf alle Fälle zu, die ich untersucht habe. Jede dieser kognitiven Verzerrungen wurde in einem unpolitischen Kontext geprüft, und bei jeder wurde meine These unabhängig von den anderen bestätigt.

IP: Eine der kognitiven Verzerrungen in diesem Kontext ist der Faktor „Optimismus“. Er verleitet zu riskantem Handeln, weil unsere Pläne eher Best-Case-Szena­rios gleichen als realistischen Szenarios.
Kahneman: Ja, die „optimistische Vorprägung“ ist im Grunde sehr simpel. In so ziemlich jedem Krieg finden wir auf beiden Seiten eher zuversichtliche Generäle. Der Erste Weltkrieg ist ein klassisches Beispiel: Sowohl Franzosen als auch Deutsche waren überzeugt, dass dieser Krieg, der im August 1914 ausbrach, bis Weihnachten beendet sein würde.

IP: Die beste Möglichkeit, um sich vor solchen Fehlschlüssen zu hüten, wäre dann doch, Außenstehende einzubeziehen, die mit dem jeweiligen Unterfangen gar nichts zu tun haben. Nicht zuletzt zeigt uns doch das Beispiel des Irak-Kriegs, dass es sehr unrealistische Einschätzungen über den Erfolg einer Invasion geben kann. Vielleicht sollten die Amerikaner bei den Planungen für einen Militäreinsatz Kanadier einbeziehen – oder wenigstens jemanden, der sich nicht mit den zugrundeliegenden Plänen und Absichten identifiziert?
Kahneman: Ja, außer dass ihm mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht geglaubt werden würde, weil er Kanadier ist. Aber wichtiger als der optimistische Fehlschluss ist für mich – und natürlich bin ich da von meinem israelischen Kontext beeinflusst, auch wenn ich glaube, dass dies auch in anderen Zusammenhängen zutrifft – der so genannte „fundamentale Attributionsfehler“. Das ist ein furchtbarer Name, aber die generelle Idee dahinter ist sehr einfach: Der Mensch glaubt, dass sein Verhalten nur eine Reaktion, und zwar meist eine angemessene Reaktion auf das ist, was Andere tun. Das Verhalten ihrer Gegenspieler aber sehen sie von tief verwurzelten und gleichbleibenden Charakteristika geprägt. Also denken sie zum Beispiel: Der andere hasst mich und ich reagiere nur auf seine Provokationen. Dabei ignorieren sie komplett, dass es vielleicht der Andere ist, der auf ihre Provokationen reagiert. Das ist extrem wichtig in Konfliktsituationen. Ein solcher „Denkfehler“ minimiert die Möglichkeit einer Verständigung, weil es die Beteiligten blind dafür werden lässt, dass das Verhalten des Kontrahenten eher eine Reaktion als Ausdruck einer grundsätzlichen Feindseligkeit ist.

IP: Um im israelischen Kontext zu bleiben: Sie haben in Studien eine beunruhigende kognitive Verzerrung mit einem ebenfalls etwas sperrigen Namen beschrieben: ­„reaktive Abwertung“.
Kahneman: Die Idee der reaktiven Abwertung ist sehr schlicht: Die exakt gleiche Idee oder der gleiche Plan hört sich generös und selbstlos an, wenn er von der eigenen Seite vorgestellt wird – und er wird als missgünstig oder rundheraus böswillig aufgefasst, wenn er angeblich von der Gegenpartei kommt. Wir haben dabei Studien mit amerikanischen Studenten durchgeführt, die sich mit einer der beiden Seiten im israelisch-arabischen Konflikt identifizierten und ein Friedensangebot bewerten sollten, ohne zu wissen, von welcher Seite es stammte. Die Bewertungen fielen völlig unterschiedlich aus, je nachdem, wem das Angebot zugeschrieben wurde. Gingen die Testpersonen davon aus, dass die „eigene“ Seite das Angebot vorgelegt hatte, galt es als positiv. Das gleiche Angebot aber erweckte Argwohn, sobald es mit dem „Gegner“ identifiziert wurde.

IP: Das betrifft alles Prozesse, die vor einem Konflikt stattfinden beziehungsweise Bewertungsprobleme, die uns in einen Konflikt führen könnten. Wie verhält es sich, wenn wir schon in Konflikte geraten sind?
Kahneman: Generell gibt es das Problem, dass wir in diesen Situationen dazu neigen, Risiken auf uns zu nehmen, um Verluste zu vermeiden. Und das führt dazu, dass Kriege länger dauern als sie müssten. Eine Seite ist klar unterlegen und sollte kapitulieren, da sie ihre Ziele ohnehin nicht mehr erreichen kann. Doch anstatt aufzugeben, kämpft sie weiter, und zwar aus zwei voneinander unabhängigen Gründen: Die Führer der unterlegenen Seite haben in dieser Situation wenig zu verlieren. Der Erfolg scheint ohnehin dahin und der Ruf im Fall der klaren Niederlage vermutlich ruiniert. Und doch mag es ja eine noch so geringfügige Chance geben, das Blatt zum Besseren zu wenden, und das scheint eine sehr verlockende Option zu sein. Solches Verhalten finden wir auch unter Wirtschaftsspekulanten.

IP: In Ihrer Beschreibung dieser Phänomene beziehen Sie sich hauptsächlich auf Konfliktsituationen. Aber „Attributionsfehler“, so etwas wie „reaktive Abwertung“ oder die Neigung, „Falken zu bevorzugen“, könnten doch allgemein für alle möglichen Verhandungssituationen gelten?
Kahneman: Ja, ich würde sagen, dass die meisten dieser Probleme sich auch in den Verhandlungen um die Rettung des Euro wiederfinden lassen.

IP: Um noch einen Ihrer Fachbegriffe in die Debatte zu werfen, nämlich den der „Erwartungstheorie“: Besteht ein Problem darin, dass jede Seite ihre eigenen Zugeständnisse höher bewertet als die ihres „Verhandlungsgegners“?
Kahneman: Ja, denn die eigenen Zugeständnisse werden als Verlust wahrgenommen, und die des Gegners als Gewinn. Und da es wichtiger zu sein scheint, keine Verluste zu machen als Gewinne zu erzielen, neigt man meist dazu, das Angebot der anderen Seite schlechter zu bewerten, als es sein mag.

IP: Große Reformen sind fast nie von Erfolg gekrönt, stellen Sie fest. Dann sähe es für die Euro-Verhandlungen ja schlecht aus.
Kahneman: Der Grund dafür ist ein anderer, aber die Themen sind verwandt. Das Problem ist hier, dass aus großen Reformen immer Gewinner und Verlierer hervorgehen. Und die Verlierer, oder jene, die dabei sind zu verlieren, kämpfen härter als die Gewinnenden. Daher gibt es eine starke Tendenz, die Verlierenden zu entschädigen, was dazu führt, dass Reformen nahezu zwangsläufig mehr kosten als erwartet. Denn am Ende geht es ja darum, den Verlust der Unterlegenen so klein wie möglich zu halten.

IP: Und wie steht es um die Bewertung von Entscheidungen? Kann die überhaupt gründlich genug erfolgen? Wo liegt die Verantwortung von Bürgern und Journalisten?
Kahneman: Man sollte wirklich versuchen, den Prozess und nicht das Ergebnis zu bewerten. Wir neigen dazu, die Qualität einer Entscheidung an die Qualität ihres Resultats zu knüpfen. Tatsächlich gibt es Verfahren, die mit höherer Wahrscheinlichkeit zu guten Entscheidungen führen als andere. In einer besseren Welt würden Entscheidungen nicht danach beurteilt werden, ob sie im Ergebnis gut oder schlecht sind.

Die Fragen stellte Rachel Herp Tausendfreund

Daniel Kahneman ist Senior Scholar an der Princeton University und Professor Emeritus für Public Affairs an der Woodrow Wilson School of Public and International Affairs. 2002 wurde ihm der Nobelpreis für Wirtschaft verliehen. Sein Buch „Schnelles Denken, langsames Denken“  (2012) ist ein internationaler Bestseller.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 6, November/ Dezember 2012, S. 16-21

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