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01. Jan. 2020

Die Grenzen der Überwachung

In Xinjiang hat Peking eine neue Form des Totalitarismus geschaffen, dessen Kontrollsystem sich ausweitet. Die internationale Gemeinschaft muss endlich Position beziehen.

Der klassische Totalitarismus, in dem der Staat alle Institutionen und die meisten Aspekte des öffentlichen Lebens kontrolliert, ist – mit Ausnahme letzter Bastionen wie Nordkorea – mit der Sowjetunion ausgestorben. In China hat die Kommunistische Partei zwar ihr staatliches Machtmonopol behauptet; sie ließ aber zu, dass sich eine florierende Privatwirtschaft entwickelte. In Xinjiang, einer Region im Nordwesten Chinas, bahnt sich allerdings eine neue Form des Totalitarismus an. Sie fußt nicht auf der Verstaatlichung von Unternehmen und Privatbesitz, sondern auf der Sammlung und Analyse privater Daten von Bürgerinnen und Bürgern. Das Beispiel Xinjiang verdeutlicht, wie ein Überwachungsstaat aussieht, der von einer Regierung entworfen wurde, die keinen Widerspruch duldet und versucht, das eigene Volk wehrlos zu machen. Und es zeigt auch, wie viel Macht private Daten als Instrument der sozialen Kontrolle haben.



Xinjiang macht 16 Prozent der Landfläche Chinas aus, beherbergt allerdings nur einen kleinen Teil der Gesamtbevölkerung: Von den 1,4 Milliarden Menschen in China leben nur 22 Millionen in dieser Region. Davon sind 13 Millionen Uiguren und andere turkstämmige Muslime. Obwohl Sicherheitsfragen auf der Agenda der chinesischen Regierung ohnehin weit oben stehen, spielen sie in Xinjiang eine noch viel wichtigere Rolle. Hier kämpft die Kommunistische Partei laut eigenem Bekunden gegen die „drei Übel“ – gegen „Separatismus, Terrorismus und Extremismus“.



Die Maßnahmen, zu denen man dabei zuletzt griff, sind allerdings mehr als fragwürdig. Anstatt Kriminelle festzusetzen, haben die Behörden in Xinjiang mehr als eine Million turkstämmiger Muslime inhaftiert, um sie politisch „umzuerziehen“. Damit ist die sogenannte „Strike Hard Campaign“ wohl für den größten Fall willkürlicher Massenhaft seit Jahrzehnten verantwortlich.



Zwar versucht Peking seit geraumer Zeit, die in Xinjiang entstehenden Indoktrinationszentren als „Ausbildungsstätten“ auszugeben. In Wirklichkeit ist ihr Zweck jedoch offensichtlich die Zwangsassimilierung. Turkstämmige Muslime werden dort so lange festgehalten, bis die Behörden davon überzeugt sind, dass sie ihre religiöse und ethnische Identität – ihren islamischen Glauben, ihre Sprache, Kultur und Traditionen – abgelegt haben und ihre Loyalität gegenüber der KP glaubwürdig versichern können. In einigen Teilen Xinjiangs gelten Kinder, deren Mütter und Väter sich in Haft befinden, gar als „Waisen“ und werden in staatlichen Waisenhäusern einquartiert, in denen sie einer ähnlichen Gehirnwäsche unterzogen werden wie ihre Eltern.

Eine neue Form des Totalitarismus

Die Inhaftierungswelle ist allerdings nur ein Teil des Dramas, das sich in Xinjiang abspielt. Weitaus auffälliger ist der Überwachungsstaat, den Peking in der Region errichtet hat und der eine zentrale Rolle dabei spielt, Menschen zu durchleuchten und festzusetzen. Der Umfang und die Aufdringlichkeit, mit der die Regierung hierbei vorgeht, sind nahezu beispiellos. Sollte diese neue Form des Totalitarismus nicht gebremst werden, könnte sie anderen Regierungen als Blaupause dienen und schon bald zu einer Bedrohung für uns alle werden.



Der außergewöhnliche Charakter der chinesischen Überwachungsbemühungen in Xinjiang lässt sich vor allem an dem enormen Ressourcenaufwand ablesen, den China in der Region betreibt. Regelmäßig werden rund eine Million Beamte dorthin entsandt, um sich als „Gäste“ in den Häusern turkstämmiger Muslime einzuquartieren und diese auf ihre Religiosität und ihre politischen Einstellungen hin zu überprüfen. Die chinesischen Behörden haben außerdem Zehntausende neue Polizeibeamte für den Einsatz in Xinjiang rekrutiert, Tausende neue Polizeistationen und Kontrollstellen in der gesamten Region errichtet und das Budget für die öffentliche Sicherheit drastisch erhöht.



Die Informationen, die auf diese Weise über Muslime in Xinjiang gesammelt werden, lässt Peking mit der neuesten Technologie ordnen und analysieren. Einige Checkpoints in der Region sind mit speziellen Instrumenten ausgestattet, sogenannten Datentüren: Sie saugen Informationen von Mobiltelefonen und anderen elektronischen Geräten auf, ohne dass es den Betroffenen auffällt. Maschinenlesbare QR-Codes werden an Haustüren angebracht. Beamte sind mit mobilen Apps ausgestattet, um sie zu scannen – die Behörden sollen Individuen möglichst schnell mit ihren Häusern und Besitztümern in Verbindung bringen können. Um turkstämmige Muslime aufzuspüren und zu überwachen, benutzt die Polizei auch Künstliche Intelligenz, einschließlich Software zur Gesichts- und Autokennzeichenerkennung, die mit Überwachungskameras in der Region und anderen Teilen Chinas verbunden ist. Darüber hinaus sammeln die Behörden biometrische Daten, Sprachaufzeichnungen, Iris-Scans und DNA.



Um diese enormen Datenmengen zu verwalten, zu sortieren und zu analysieren, brauchte es auch ein neues und innovatives System. Die mobile App, die Polizisten und andere Beamte nutzen, um mit der sogenannten Integrated Joint Operations Platform (IJOP) – einer der wichtigsten in Xinjiang eingesetzten Überwachungsplattformen – zu kommunizieren, bietet Einblicke in dieses System.



Auf der Grundlage aggregierter Daten kennzeichnet das IJOP-Programm Menschen, die als potenzielle Bedrohung eingestuft werden. Einige dieser Verdächtigen werden daraufhin als Zielpersonen für weitere Ermittlungen bestimmt, andere für die sofortige Inhaftierung und Umerziehung. Indem sie den Quellcode der von den Behörden benutzten App auslasen und einem „Reverse-Engineering“-Prozess unterwarfen, konnten Mitarbeiter von Human Rights Watch (HRW) einen Einblick in die bereits gesammelten Daten erhalten. Der schiere Umfang dieser Datensammlung hilft unter anderem dabei zu verstehen, warum die Einwohner Xinjiangs in Polizeiverhören mit teilweise verwirrenden Fragekatalogen konfrontiert werden.

Maßlose Überwachung

Denn die Fragen betreffen nicht nur persönliche Merkmale wie Blutgruppe oder Körpergröße, sondern umfassen mitunter auch Themen wie religiöse Atmosphäre oder politische Zugehörigkeit. Dazu zählt auch, ob jemand eine neue Telefonnummer erhalten, einer Moschee gespendet oder ohne Erlaubnis aus dem Koran gelesen hat. Die Plattform enthält ebenfalls Informationen darüber, ob jemand womöglich den „Kontakt zu Nachbarn“ meidet oder auffällig oft „davon absieht, die Vordertür“ seines Hauses zu benutzen. Wenn ein Telefon plötzlich „vom Stromnetz getrennt“ wird, sendet das System eine Warnmeldung an einen Beamten in der Nähe. All diese Informationen werden zentral auf der IJOP gespeichert und direkt mit den Personalausweisnummern der Betroffenen verknüpft.



In einigen Fällen verlangen die Ermittlungen, dass Beamte private Telefone überprüfen. Über einen derartigen Fall berichtet ein turkstämmiger Muslim aus Xinjiang, der bei einer Polizeikontrolle aus dem Verkehr gezogen wurde. HRW-Mitarbeitern erzählte er, dass „Polizisten einer Sondereinheit kamen und mich aufforderten, ihnen mein Telefon zu geben. Ich tat es und sie schlossen das Telefon an.“ Ähnlich erging es einer Frau, die an einer Tankstelle angehalten wurde. Die Software der Behörden stuft insgesamt 51 Programme, darunter VPNs sowie Software, die End-to-End-Verschlüsselung ermöglicht – also auch WhatsApp, Viber und Telegram – als „verdächtig“ ein.



Ein besonderes Augenmerk liegt allerdings auf den privaten Kontakten: Ist eine Person mit jemandem verbunden, der sich erst kürzlich eine neue Telefonnummer zugelegt hat? Ist diese Person mit jemandem gereist, den die Behörden als verdächtig einstufen? Hat die Person Kontakte ins Ausland?



Viele Bewohner von Xinjiang sind erschrocken, wenn sie über das Ausmaß der Überwachung aufgeklärt werden. „Es gibt diesen Ort, an den ich nachts gehe, den niemand kennt. Aber die App kennt ihn. Als mir das bewusst wurde, habe ich wirklich Angst bekommen“, sagte ein Uigure, als man ihm die nachgebaute Software zeigte. Er gab die Personalausweisnummer eines Freundes in das System ein und war schockiert, als das Programm eine „sofortige Festnahme“ empfahl.

Da die Software direkt mit einer Reihe von Checkpoints in der Region verbunden ist, kann sie auch den Bewegungsradius von Personen einschränken, die als „nicht vertrauenswürdig“ eingestuft werden. Ehemalige Einwohner der Region haben angegeben, dass man sie an Kontrollpunkten anhielt und verhörte, weil ihre Verwandten in einem Umerziehungslager saßen. Zudem stoppt das System auch Personen, die ein anderes Ziel ansteuern als den Ort, an dem sie offiziell gemeldet sind. Die Einwohner Xinjiangs sind praktisch digital eingehegt worden.

Belohnen und bestrafen

Doch die Massenüberwachung ist längst nicht nur auf Xinjiang beschränkt. In ganz China setzen die Behörden ähnliche technologische Hilfsmittel ein. So hat Human Rights Watch eine Big-Data-Überwachungsplattform namens „Police Cloud“ aufgedeckt, die personenbezogene Daten sammelt und sortiert – von Supermarktmitgliedschaften bis hin zu kompletten Krankenakten.



Ein weiteres System zur Überwachung und aktiven Beeinflussung des sozialen Verhaltens einfacher Bürgerinnen und Bürger ist das von den chinesischen Behörden entwickelte Sozialkredit-System. Im Rahmen dieses Programms, das bereits von der Regierung benutzt wird und bis 2020 voll einsatzfähig sein soll, werden Menschen für sozialverträgliches Verhalten „überall belohnt“ und für sozialunverträgliches Verhalten „überall eingeschränkt“. Einige Arten des von dem System gemessenen Verhaltens scheinen bisher relativ harmlos zu sein: so etwa Datensammlungen darüber, ob eine Person Verkehrsregeln einhält, Bußgelder zahlt oder darauf verzichtet, in öffentlichen Verkehrsmitteln zu essen. Politische Indikatoren ließen sich jedoch ohne Weiteres einspeisen.



Während die detaillierte Ausgestaltung des Systems von Region zu Region variiert, ist in der Bestrebung, sozialverträgliche Personen zu belohnen und sozialunverträgliche Personen zu bestrafen, ein roter Faden zu erkennen. Darf man in einer lebenswerten Stadt wohnen? Hat man die Möglichkeit, seine Kinder auf eine Privatschule zu schicken? Bekommt man die Erlaubnis, in einem Flugzeug oder Hochgeschwindigkeitszug zu reisen? All diese Fragen könnten in Zukunft von einem Algorithmus entschieden werden.



Die monströse Genialität derartiger Kontrollsysteme besteht darin, dass für die meisten Menschen schon allein der Wunsch nach den angebotenen Sozialleistungen ausreicht, um sie auch ohne die Androhung einer Haftstrafe auf Linie zu bringen. Dies gilt umso mehr, als die meisten Chinesinnen und Chinesen aus Gründen der Selbsterhaltung schon heute massive Selbstzensur betreiben. Sie wissen, dass es besser ist, die Regierung nicht öffentlich zu kritisieren und sich von meinungsstarken Bekannten fernzuhalten.



Angesichts der schieren Arbeitskraft, die erforderlich ist, um so ein ausgefeiltes und komplexes soziales Kontrollsystem aufrechtzuerhalten, sieht sich die Regierung gezwungen, nicht nur Bürgerinnen und Bürger, sondern auch Beamte und Polizisten zu überwachen. Viele Bürokraten müssen schrecklich langweilige und mühsame Aufgaben erfüllen, um das System am Laufen zu halten. Beamte, die die von der IJOP angeforderten elfseitigen Informationsbögen ausfüllen, übernehmen dabei wohl den banalsten Teil der Datenerfassung. Und auch sie werden von der App überwacht und bewertet.



Die Technologisierung der Überwachungsarbeit trägt dazu bei, Polizeibeamte von den Konsequenzen ihrer Arbeit zu entfremden. Während Henker oder Folterer sich stets darüber im Klaren sein dürften, dass sie etwas Falsches tun, gibt der moderne Beamte lediglich Informationen in ein System ein, erledigt also alltägliche Polizeiarbeit. Die Auswirkungen seiner Dateneingabe bekommt er nicht mit. Am Ende ist es das Computerprogramm, das festlegt, welche Menschen verhaftet werden. So bleibt unklar, wer die Verantwortung trägt.



In ihrer Gesamtheit deuten all die Entwicklungen in Xinjiang darauf hin, dass die chinesische Regierung daran arbeitet, ihre sozialen Kontrollsysteme zu perfektionieren. Mittels verschiedener Programme sollen Menschen, die als Bedrohung für den Staat wahrgenommen werden, überwacht und eingeengt werden. Der Chinaexperte John Garnaut bezeichnete die Führungspersönlichkeiten der Kommunistischen Partei, von Mao Zedong bis Xi Jinping, als „Seelen-Ingenieure“. Genauso wie Mao sei auch Xi davon überzeugt, dass Menschen in etwa so konditioniert werden könnten, „wie es einst [dem russischen Psychologen] Pawlow gelang, Hunde zu konditionieren“, indem er „alle Anreize und Fehlanreize in ihrem Leben unter seine Kontrolle brachte“, so Garnaut. Dies ist auch einer der Gründe dafür, warum die Regierung unter Xi, die über größere wirtschaftliche Ressourcen, fortschrittlichere Technologien und eine stärkere Bürokratie als Mao verfügt, nur äußerst selten auf offene Gewalt zurückgreifen muss.



Es ist auch der Grund dafür, warum die meisten Chinesinnen und Chinesen ihr Leben bis heute trotz der sozialen Kontrolle als „normal“ wahrnehmen. Dieses Trugbild wirkt sich mitunter auch positiv auf Chinas Image im Ausland aus, da viele Touristen und Besucher übersehen, dass der oberflächliche Ruhezustand, in dem sich das Land befindet, das Produkt einer von Staats wegen verordneten Choreografie ist. Dabei bleibt selbst prodemokratischen Demonstranten in Hongkong – einer Stadt, die zwar unter chinesischer Hoheit steht, aber noch immer einige Freiheiten genießt – längst nichts anderes mehr übrig, als sich aktiv vor der chinesischen Überwachung zu schützen. Sei es, indem sie die Ortungsfunktion ihrer Handys abschalten, U-Bahn-Tickets mit Bargeld kaufen, Überwachungskameras mit Laserpointern blenden, Masken tragen oder auf verschlüsselte Kommunikationskanäle wie Telegram umsteigen, um ihre Identität nicht preisgeben zu müssen und der Verfolgung zu entgehen.



Doch so erschreckend das stetig wachsende Netzwerk der sozialen Kontrolle auch sein mag: Bisher hat es noch seine Grenzen. Die Forscher hinter der Software beklagen, dass sich aus den riesigen Datenmengen nur äußerst selten nützliche Analysen gewinnen lassen. Der Umstand, dass Polizeibeamte bei der Erfassung der Daten Fehler machen und die von unterschiedlichen Unternehmen entwickelten Überwachungssysteme oftmals nicht kompatibel sind, kommt noch erschwerend hinzu. Obwohl die Omnipräsenz von Überwachungstools – von biometrischen Datenbanken, die mit Personalausweisnummern verknüpft sind, bis hin zu Überwachungskameras – eine furchterregende Zukunft zu suggerieren scheint, funktionieren viele dieser Systeme noch nicht wie beabsichtigt.

Mehr öffentliche Gegenwehr

Doch was kann getan werden, um den Überwachungsapparat einzuschränken? Die öffentliche Gegenwehr ist der erste Schritt. Denn obwohl sich die Behörden nach außen gerne als unerschütterlich präsentieren, sind sie durchaus anfällig für Kritik. Als die Medien anfingen, über die Masseninhaftierungen turkstämmiger Muslime in Xinjiang zu berichten, reagierte die Regierung umgehend. So wurden etwa Showtouren für Diplomaten und Journalisten organisiert, um sie von der Harmlosigkeit der Haftanstalten in der Region zu überzeugen. Die Führungen waren zwar nicht sonderlich überzeugend; trotzdem bot die Scharade ausländischen Regierungen eine Entschuldigung dafür, sich nicht mit der Großmacht China anlegen zu müssen.



Vor dem UN-Menschenrechtsrat in Genf gaben 24 Regierungen eine Erklärung ab, in der sie ihre Besorgnis über die Situation in Xinjiang zum Ausdruck brachten. Peking reagierte darauf mit einer weiteren Erklärung, musste sich aber auf Fürsprecher wie Nordkorea, Venezuela, Saudi-Arabien, Kuba, Syrien und Russland stützen.



Diese Reaktionen zeigen, dass die internationale Kritik einen Nerv getroffen hat und sich die chinesische Regierung durchaus um ihr Image sorgt. Auch in Peking weiß man, dass sich die Strategie, die man in Xinjiang verfolgt, nur schwerlich rechtfertigen lässt. Nicht zuletzt deshalb ist es wichtig, dass sowohl der Überwachungsapparat, den China in Xinjiang installiert hat, als auch die Inhaftierungswelle in der Region weiterhin aufs Schärfste kritisiert und in den Mittelpunkt der Berichterstattung gerückt werden.



Selbst wenn sich die Volksrepublik an Überwachungsstandards halten würde, hätte die Bevölkerung aber noch lange nicht die Möglichkeit, diese auch einzufordern und durchzusetzen. Sie könnte sich weder auf eine unabhängige Justiz noch auf ein gesetzliches Petitions- oder Protestrecht stützen, um den Staat für Fehlverhalten abzustrafen.



Trotzdem können internationale Standards die chinesische Regierung beeinflussen, wenn andere Länder zeigen würden, dass sie bereit sind, sich selbst an diese Standards zu halten. Als 1997 beispielsweise der Vertrag über das Verbot von Landminen verabschiedet wurde, lehnte eine Reihe von Großmächten, darunter China, Russland und die Vereinigten Staaten, seine Ratifizierung ab. Da sich jedoch eine ausreichende Anzahl von Ländern für das Abkommen aussprach, wurde der Einsatz von Landminen schon bald international geächtet. Ähnliche Prozesse ereigneten sich nach der Ratifizierung von Verträgen, die den Einsatz von Streumunition sowie von Kindersoldaten verbieten.



Um dem aufkeimenden Überwachungsapparat etwas entgegenzusetzen, sollten sich Bürgerrechtsgruppen zusammentun und Regierungen unter Druck setzen, damit sie sich um den Schutz der Privatsphäre bemühen. Dabei sollte es nicht das Ziel sein, einen niedrigsten gemeinsamen Nenner – etwa in Form eines universell anerkannten Abkommens – zu finden, sondern schnell Unterstützer für den Kampf gegen den Missbrauch privater Daten zu gewinnen. So könnten staatliche Eingriffe in die Privatsphäre schon bald stigmatisiert sein.



Dabei sollte man sich auf folgende Punkte konzentrieren: die breitangelegte Sammlung privater Daten und deren Weitergabe an Dritte einzuschränken, die dazu genutzt werden könnten, Datenprofile ganzer Bevölkerungsgruppen zu erstellen; den staatlichen Erwerb von Biodaten, etwa DNA-Proben, Gesichtsbildern oder Stimmproben zu begrenzen; Exportkontrollen für Überwachungstechnologien festzulegen; sowie mehr Transparenz zu schaffen, wenn es um die technologischen Instrumente geht, die Regierungen einsetzen, um Grundrechte auszuhebeln.



Natürlich wäre keine dieser Maßnahmen ein Allheilmittel – und in vielen Fällen wären sie rechtlich nicht durchsetzbar. Trotzdem würden sie einen wichtigen Beitrag dazu leisten, neue internationale Normen zu schaffen und so die Grenzen der Überwachung zu definieren. Diese Normen und die mit ihnen verbundene Ächtung von Staaten, die sich über sie hinwegsetzen, wären das beste Mittel, um sich gegen einen Überwachungsstaat zu wehren, wie Peking ihn in Xinjiang errichtet hat.



 

Kenneth Roth führt die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch. Von  Ko-Autorin Maya Wang gibt es aus Sicherheitsgründen kein Foto.

Dieser Text erschien in voller Länge zuerst in der New York Review of Books. Übersetzung: Kai Schnier

Hintergrund: China Cables



403 Seiten sensibler Dokumente der Regierungspartei wurden der New York Times im November 2019 zugespielt. Diese und weitere Enthüllungen des International Consortium of Investigative Journalists zeigen:

  • Hinweise auf das geplante Ausmaß der Umerziehungslager sowie genaue Pläne zum Betrieb der Anlagen
  • Planung der Kontrolle und Überwachung der uigurischen Bevölkerung und Anweisungen zur Nutzung der IJOP-App
  • Interne Reden Präsident Xi Jinpings: Extremismus sei ein in ganz Xinjiang verbreitetes Virus, das gnadenlos ausgelöscht werden müsse
  • Das Gerichtsurteil gegen einen „extremistischen“ Uiguren, der nichtmuslimisches Verhalten ermahnt hatte
  • Strafen für Tausende nicht hart genug durchgreifende Beamte sowie das vermutlich erzwungene Geständnis eines ehemaligen Funktionärs, der Häftlinge freigelassen hatte
  • Anweisungen zur Desinformation und Einschüchterung von Studierenden, deren Verhalten sich auf die Sozialpunkte ihrer internierten Angehörigen auswirken könne.
Bibliografische Angaben

Internationale Politik 1, Januar/Februar 2020, S. 79-86

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