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04. Jan. 2013

Das ist keine Revolution

Aus dem Arabischen Frühling wurde der Winter unseres Unbehagens

Nationen zerfallen, Minderheiten erwachen, Bündnisse werden wie im Taumel geschlossen und zerfallen ebenso schnell wieder. Wo Wahlen stattfinden, gewinnen die Islamisten. Wo sie regieren, werden sie von den eigenen Widersprüchen fast zerrissen. Ist der Islamismus der rechte, authentische Pfad oder eine weitere Abweichung?

Dunkelheit senkt sich über die arabische Welt. Verfall, Tod und Zerstörung begleiten den Kampf für ein besseres Leben. Kräfte von außen wetteifern um Einfluss und begleichen alte Rechnungen. Die friedlichen Demonstrationen, mit denen die Aufstände begannen, die erhabenen Werte, die sie inspiriert haben, verblassen zu fernen Erinnerungen. Wahlen mutieren zu Partys, bei denen politische Visionen zweitrangig sind. Das einzige beständige Programm ist religiös und von der Vergangenheit geprägt. Ein Gerangel um Macht ist entfesselt, ohne klare Regeln, Werte oder Ende. Es wird nicht mit dem Wechsel oder Überleben eines Regimes aufhören. Die Geschichte macht keine Fortschritte. Sie verfängt sich in Seitenwegen.

Innerhalb des großen Spieles finden weitere Spiele statt: Kämpfe gegen autokratische Regime, ein Zusammenstoß der Konfessionen von Sunniten und Schiiten, ein regionaler Machtkampf, ein gerade heraufgezogener Kalter Krieg. Nationen zerfallen und Minderheiten erwachen, spüren eine Möglichkeit, aus den beengenden Begrenzungen des Staates auszuscheren. Das Bild ist verschwommen. Dies sind lediglich flüchtige Fragmente einer sich noch entwickelnden Landschaft, mit nur bruchstückhaften Andeutungen eines endgültigen Zieles. Die Veränderungen, die jetzt für wesentlich gehalten werden, könnten sich als abseitige Wegmarken einer viel längeren Reise herausstellen. Neue oder neu erstarkte Akteure drängen an die Spitze: eine „Straße“, von der niemand weiß, was und wer genau sie eigentlich ist, und die sich ebenso schnell mobilisiert wie auflöst; junge Demonstranten, die eben noch die Plätze der Revolution beherrschten, finden sich kurz darauf an den Rand gedrängt. Die Muslimbrüder, gestern noch vom Westen als gefährliche Extremisten abgetan, werden heute wie vernünftige Pragmatiker umworben. Die traditionelleren Salafisten, einst allen Formen der Politik abgeneigt, brennen nun darauf, bei Wahlen anzutreten. Es gibt zwielichtige bewaffnete Gruppen, Milizen mit fragwürdigen Loyalitäten und unbekannten Wohltätern ebenso wie Gangs, Kriminelle, Banditen, Entführer.

Allianzen werden wie im Taumel geschlossen, widersprechen jeglicher Logik, beruhen auf keiner historischen Erfahrung und wechseln dementsprechend häufig. Theokratische Regime unterstützen Säkulare; Gewaltherrscher wollen Demokratie; die USA gehen Partnerschaften mit Islamisten ein; Islamisten unterstützen eine militärische Intervention des Westens. Arabische Nationalisten stellen sich an die Seite von Regimen, gegen die sie lange gekämpft haben; Liberale ergreifen Partei für Islamisten, mit denen sie dann aneinander geraten. Saudi-Arabien unterstützt Säkulare gegen die Muslimbruderschaft und Salafisten gegen Säkulare. Die USA sind mit dem Irak verbündet, der mit dem Iran klüngelt, der das syrische Regime unterstützt, dessen Sturz die USA erhoffen und an dem sie mitwirken wollen. Die USA sind auch mit Katar verbündet, das die Hamas unterstützt, und mit Saudi-Arabien, das die Salafisten finanziert, die wiederum Dschihadisten fördern, die dann Amerikaner töten, wo sie nur können.

Von „null Probleme“ zu „nichts als Probleme“

In Rekordzeit geriet die türkische Politik der „null Probleme mit den Nachbarn“ in eine Situation der „nichts als Probleme mit ihnen“. Die Türkei entfremdete sich dem Iran, verärgerte den Irak und legte sich mit Israel an. Mit Syrien befindet sie sich praktisch im Krieg. Irakische Kurden sind nun Ankaras Verbündete, obgleich Ankara gegen die eigenen Kurden Krieg führt und die türkische Kurdenpolitik im Irak und in Syrien sezessionistische Bestrebungen in der Türkei selbst ermutigt.

Jahrelang betrieb der Iran Politik gegen arabische Staaten und pflegte seine Bindungen zu Islamisten, mit denen man eine gemeinsame ideologische Grundlage zu haben schien. Doch sobald Islamisten an die Macht kommen, versuchen sie, ihre früheren saudischen und westlichen Feinde zu beschwichtigen und sich von Teheran zu distanzieren, aller iranischen Werbung zum Trotz. Das iranische Regime wird sich gezwungen sehen, seine Allianzen wieder breiter aufzustellen und Nichtislamisten zu umwerben, die in den neu entstehenden Ordnungen keinen Platz für sich sehen und entsetzt über die aufkeimende Partnerschaft zwischen den USA und den Islamisten sind. Erfahrung hat der Iran in solchen Dingen: In den vergangenen drei Jahrzehnten war er mit dem säkularen Syrien verbündet, während Damaskus die dortigen Islamisten unterdrückte.

Ziele mögen übereinstimmen, aber nicht die Motive. Die USA arbeiteten mit den arabischen Monarchien und Scheichtümern am Golf zusammen – gestern noch, um Gaddafi zu stürzen, heute, um sich Assad entgegenzustellen. Man wolle ja auf der richtigen Seite der Geschichte stehen. Nur kann man nicht behaupten, dass diese Regime die Rechte auch zu Hause respektieren, die sie im Ausland so fromm zu vertreten vorgeben. Sie haben weder Demokratie noch offene Gesellschaften im Sinn; sie sind damit beschäftigt, eine regionale Vorherrschaft zu erringen. Die selbst ernannten Kämpfer für Demokratie können solche Länder, deren System so gar nicht ihren (angeblichen) eigenen Zielen entspricht, wohl gar nicht anders sehen denn als Schatzkammer. Das neue Bündnissystem beruht auf zu vielen falschen Annahmen und verbirgt zu viele tiefe Unvereinbarkeiten. Es ist nicht gesund, weil es nicht real sein kann. Etwas ist falsch. Etwas ist unnatürlich. Es kann nicht gut ausgehen.

Die Verluste bleiben unsichtbar

Ein Medienkrieg, der in Ägypten begonnen hat, erreicht seinen Zenit in Syrien. Jede Seite zeigt nur die eigene Seite, übertreibt die Anzahl ihrer Anhänger, kümmert sich nicht um den Rest. In Bahrain ist das Gegenteil der Fall. Ganz egal, wie viele Gegner des Regimes auftauchen, man nimmt einfach keine Notiz von ihnen. Noch vor kurzem verherrlichten die Fernsehbilder abenteuerliche libysche Helden mit ihren bunten Bandanas und ihrer geschwätzigen Siegerpose. Die wirklichen Kämpfe, die nicht von diesen Straßenkämpfern und häufig aus der Luft geführt wurden, tobten anderswo. Die Verluste blieben unsichtbar.

Menschenmassen versammeln sich auf dem Tahrir-Platz, und die Kameras zeigen uns deren Gesichter in Nahaufnahme. Aber was ist mit all den Millionen, deren Gesichter wir nicht sehen, weil sie zu Hause geblieben sind? Haben sie sich über Mubaraks Sturz gefreut oder haben sie seinen Abgang still betrauert? Wie denken die Ägypter über die gegenwärtige Verwirrung, die Unruhen, den wirtschaftlichen Zusammenbruch, die politische Unsicherheit? Die Hälfte der Bevölkerung ist den Wahlen fern geblieben und die Hälfte jener, die gewählt haben, stimmte für die alte Ordnung. Wer wird sich um jene kümmern, die auf der anderen als der „richtigen Seite der Geschichte“ gelandet sind?

Die meisten Syrer kämpfen weder für das Regime noch für die Opposition. Aber sie bekommen die Folgen dieser erbitterten Konfrontation zu spüren, ihre Wünsche bleiben unbemerkt, ihre Stimmen ungehört, ihr Schicksal vergessen. Die Kamera wird zum unveräußerlichen Bestandteil des Aufstands, zum Werkzeug von Mobilisierung, Propaganda und Hetze. Das militärische Ungleichgewicht begünstigt die alten Regime, aber das wird durch die mediale Asymmetrie kompensiert: Aufmerksamkeit und Sympathie liegen bei den neuen Kräften. Im Kampf um öffentliche Gunst im Zeitalter der „Nachrichtenwäsche“ hatten die alten Ordnungen keine Chance.

Weder in Tunesien noch in Ägypten, Jemen, Libyen, Syrien und Bahrain ist eine Führungsgestalt hervorgetreten, die das Land einigen und einen neuen Weg weisen könnte. Führungsfähigkeit ist ohnehin ein seltenes Gut. Tritt so etwas wie Führung in Erscheinung, dann in Form eines Komitees. Wo sich Komitees formieren, sind sie auf mysteriöse Weise entstanden und haben sich eine Autorität zugesprochen, die ihnen niemand verliehen hat. Legitimität kommt von außen: Der Westen gewährt Respektabilität und Bekanntheit; arabische Golf-Staaten bieten Ressourcen und Unterstützung; internationale Organisationen Geltung und Beistand.

Jenen, die an der Macht sind, mangelt es häufig an der Durchsetzungsfähigkeit, die aus einer klar definierten und loyalen innenpolitischen Wählerschaft herrührt; sie brauchen die Anerkennung des Auslands und müssen ihre Positionen dem anpassen, was Außenstehende akzeptabel finden. Das ist in der Geschichte der Revolutionen beispiellos. Seit jeher beharrten Revolutionäre stur auf ihrer Unabhängigkeit und wiesen stolz jede äußere Einmischung zurück.

Reise nach Jerusalem

Wie die Herrscher, die sie zu stürzen geholfen haben, beschwichtigen die Islamisten den Westen. Und wie jene, an deren Stelle sie getreten sind (und die einstmals auf das Schreckgespenst der Muslimbrüder verwiesen), verweisen die Muslimbrüder jetzt auf das Schreckgespenst der Salafisten, die wiederum wie einst die Muslimbrüder hin- und hergerissen sind zwischen der Treue zu ihren Traditionen und ihrem neu erwachten Geschmack für die Macht.

Man spielt die Reise nach Jerusalem. In Ägypten sitzen die Salafisten jetzt auf dem Stuhl der Muslimbrüder und die Brüder haben sich auf den Stuhl gestürzt, auf dem früher Mubarak saß. In Palästina ist der Islamische Dschihad die neue Hamas und feuert Raketen ab, um die Herrscher von Gaza in Verlegenheit zu bringen; Hamas, die neue Fatah, behauptet, eine Widerstandsbewegung zu sein, während sie gegen jene vorgeht, die zu widerstehen wagen; Fatah ist eine Version der alten arabischen Autokratien, die sie einst scharf kritisierte. Wie lange wird es dauern, bis sich die Salafisten als die bessere Alternative zu Dschihadisten anbieten?

Durchwachsene Bilanzen

Die ägyptische Politik ist eingekeilt zwischen der triumphierenden Muslimbruderschaft, salafistischen Hardlinern, besorgten Nichtislamisten und den Restbeständen der alten Ordnung. Die siegreiche Bruderschaft mochte eine Zeitlang so getan haben, als wollte sie eine Regierung für alle Ägypter sein, doch bleibt die Zukunft des Landes in Nebel gehüllt. Die Geschwindigkeit und Eleganz, mit der der neue Präsident Mohammed Mursi die alten militärischen Anführer kaltstellte, und die Stille, mit der dieser gewagte Schachzug quittiert wurde, deuteten bereits an, dass die Zuversicht der Islamisten gewachsen war.

In Tunesien ist die Bilanz durchwachsen. Der Übergang war größtenteils friedlich; die Nahda-Partei, Wahlsieger im Oktober 2011, präsentiert einen pragmatischen und modernen Islamismus. Und doch ist es beunruhigend, wie an-Nahda versucht, ihre Macht zu konsolidieren. Das Misstrauen zwischen Säkularen und Islamisten wächst; Proteste gegen die miserable Wirtschaftslage enden zuweilen in Gewalt. Und an den Rändern des Geschehens lauern (noch) die Salafisten und attackieren Meinungsfreiheit und Gleichheit der Geschlechter, die Merkmale einer modernen Gesellschaft.

Im Jemen hat der frühere Präsident Ali Abdullah Saleh sein Amt verloren, ist jedoch politisch weiterhin aktiv. Ein Krieg braut sich im Norden zusammen, ein weiterer im Süden. Dschihadisten warten nur darauf. Die jungen Revolutionäre, die von völliger Veränderung geträumt haben, können nur hilflos zusehen, wie verschiedene Fraktionen derselben alten Elite die Karten neu mischen. Saudis, Iraner und Kataris unterstützen ihre jeweils eigenen Gruppen. Kleinere Zusammenstöße könnten zu großen Konfrontationen eskalieren. In all dem Chaos töten Drohnen der USA Kämpfer der Al-Kaida und jeden, der zufällig in ihrer Nähe ist.

In Syrien wird der Bürgerkrieg von Tag zu Tag hässlicher, brutaler, sektiererischer. Das Land ist zum Austragungsort eines regionalen Stellvertreterkriegs geworden. Die Opposition ist eine zusammengewürfelte Truppe von Muslimbrüdern, Salafisten, friedlichen Demonstranten, bewaffneten Militanten, Kurden, desertierten Soldaten, Stammesangehörigen und ausländischen Kämpfern. Es gibt kaum mehr Mittel, die das Regime oder die Opposition in ihrem verzweifelten Kampf um den Sieg nicht anwenden würden. Der Staat, die Gesellschaft und eine alte Kultur zerbrechen. Der Konflikt breitet sich auf die Region aus.

Der Kampf in Syrien ist auch ein Kampf um den Irak. Sunnitische Araber haben den Verlust von Bagdad an die Schiiten und, in ihren Augen, safawidische Iraner nicht verwunden. Eine sunnitische Machtübernahme in Syrien würde das Schicksal der sunnitischen Iraker zum Besseren wenden. Militante irakische Sunniten fühlen sich ermutigt, Al-Kaida schöpft neue Kraft. An einem Krieg zur Wiedereroberung des Irak werden sich die Nachbarn beteiligen. Syrien hält man in der Region für wichtig. Vom Irak ist man geradezu besessen.

Die Islamisten warten, wie es in Syrien ausgeht. Sie wollen sich nicht mehr zumuten, als sie bewältigen können. Ist Geduld das erste Prinzip des Islam, so ist die Konsolidierung von Gewinnen das zweite. Sollte Syrien fallen, könnte Jordanien folgen. Dessen eigenartige Demografie – eine palästinensische Mehrheit, die von einer transjordanischen Minderheit regiert wird – hat sich bisher als Vorteil für die Regierung erwiesen: Beide hegen einen ausgeprägten Groll gegen das haschemitische Herrscherhaus, aber noch mehr misstrauen sie einander. Angesichts der einigenden Kraft des Islam, für den die Ethnie zumindest theoretisch kaum eine Rolle spielt, könnte sich das ändern.

Der Westen bleibt stumm

Schwächere Staaten könnten folgen. Im nördlichen Libanon unterstützen islamistische und salafistische Gruppen die syrische Opposition, mit der sie vielleicht mehr gemeinsam haben als mit libanesischen Schiiten und Christen. Der Libanon, von Anfang an ein fragiles Gebilde, wird geradezu auseinandergezerrt. Manche wären wohl neidisch auf ein von Sunniten beherrschtes Syrien, vielleicht wünschten sie sich auch einen Zusammenschluss. Für andere wäre genau das eine Horrorvorstellung.

In Bahrain unterdrückt ein sunnitischer Monarch, der seine Macht und Privilegien behalten will, die schiitische Mehrheit. Saudi-Arabien und andere Golf-Staaten kommen ihrem Verbündeten zu Hilfe. Der Westen, anderswo so laut, bleibt hier stumm. In den libyschen Wahlen schneiden Islamisten nicht gut ab, was ihre Gegner zur Annahme verleitet, endlich einen Sieg errungen zu haben – in einem Land, das nie politische Offenheit gekannt hat, das kein Staat ist, und in dem sich militante Truppen, so zahlreich wie Sandkörner in der Wüste, regelmäßig tödliche Auseinandersetzungen liefern. Die saudische Gerontokratie hat mit einem sich anbahnenden Wechsel zu kämpfen, lebt in Angst vor dem Iran und der eigenen Bevölkerung und verteilt Geld, um der wachsenden Unzufriedenheit das Maul zu stopfen. Wie lange kann das alles gut gehen?

In einigen Ländern werden Regime gestürzt werden, in anderen werden sie überleben. Wer besiegt wurde, ist vermutlich nicht vernichtet, sondern wird sich neu formieren und zum Gegenschlag ausholen. Das Gleichgewicht der Mächte ist nicht klar und nicht ausbalanciert. Ein Sieg stärkt nicht notwendigerweise den Sieger.

Wer an der Macht ist, besetzt den Staat, doch das könnte sich als Gut von begrenztem Wert herausstellen. In sich schwach und nur von begrenzter Legitimität, misstrauen die Menschen in der arabischen Welt dem Staat; man empfindet ihn als künstliche Struktur, die man tiefer verankerten und traditionellen Fundamenten gesellschaftlicher Ordnung wie der Familie einfach aufgesetzt hat. Er genießt weder die Akzeptanz noch die Autorität, über die er in anderen Teilen der Welt verfügt. Wo Aufstände ausbrechen, wird die Fähigkeit dieser Staaten, überhaupt zu funktionieren, noch weiter geschwächt, weil deren Zwangsgewalt schwindet.

An der Macht zu sein, muss nicht bedeuten, sie auch auszuüben. Im Libanon hat die prowestliche „Koalition des 14. März“, die ihre Kraft aus der Opposition gewonnen hatte, ihren Schwung verloren, sobald sie 2005 die Regierung bildete. Seit die Hisbollah zur maßgeblichen Kraft hinter der Regierung geworden ist, ist sie defensiver und besitzt weniger moralische Autorität als je zuvor. Jene, die keine Macht haben, sind weniger Beschränkungen ausgesetzt. Sie genießen den Luxus, die Fehler ihrer Herrscher anprangern zu dürfen, eine Freiheit, die aus der Abwesenheit politischer Verantwortung entsteht. In einem brüchigen, polarisierten Nahen und Mittleren Osten genießen sie Unterstützung von außen, die nur zu leicht gewährt wird.

An den Schalthebeln zu sitzen und einen sperrigen Regierungsapparat zu führen, kann Macht verleihen, aber auch hinderlich sein. Syriens militärischer Rückzug aus dem Libanon hat dessen Einfluss nicht verringert; Damaskus übte ihn lediglich verdeckter aus, ohne den Blick der Öffentlichkeit und ohne Pflicht zur Rechenschaft. Morgen könnte sich ein ähnliches Muster in Syrien selbst etablieren. Der Zusammenbruch des Regimes wäre ein harter Schlag für den Iran und die Hisbollah, aber wäre er auch katastrophal? Sollte dieser lange und gewaltsame Konflikt eines Tages beendet sein, dann sähen wir danach wohl keine Stabilität, sondern Chaos, ein allgemeines Gerangel um die Macht eher als eine starke Zentralregierung. Wer nicht als Sieger aus dem Kampf hervorgegangen ist, wer nicht an der neuen Ordnung beteiligt ist, wird Hilfe und Unterstützung von außen suchen, gleich um wen es sich handeln mag. Das Chaos zu nutzen ist eine Übung, die der Iran und die Hisbollah wesentlich besser beherrschen als ihre Gegner. Ohne ein syrisches Regime, auf dessen Interessen sie Rücksicht nehmen müssen, können sie freier handeln.

Nach 80 Jahren im Untergrund: Die Muslimbrüder geben den Ton an

Die Muslimbruderschaft hat die Oberhand gewonnen. Der neu gewählte ägyptische Präsident stammt aus ihren Reihen. Sie regieren in Tunis. Sie kontrollieren Gaza. Sie haben in Marokko an Boden gewonnen. Auch in Syrien und Jordanien könnte ihre Zeit kommen.

„Die Muslimbruderschaft hat die Oberhand gewonnen“ – das ist eine gewichtige, eine vor nicht allzu langer Zeit undenkbare, unaussprechliche Feststellung. Die Brüder haben 80 Jahre im Untergrund und in den Schützengräben verbracht; gejagt, gefoltert und getötet, dazu gezwungen, Kompromisse einzugehen und ihre Zeit abzuwarten. Der Kampf zwischen Islamismus und arabischem Nationalismus war lang, grausam und blutig. Könnte dessen Ende nahe sein?

Der Erste Weltkrieg und der darauffolgende imperiale Aufstieg der Europäer beendete vier Jahrhunderte islamisch-ottomanischer Herrschaft. Das nächste Jahrhundert wurde mit Ach und Krach das des arabischen Nationalismus. Für viele war das eine fremde und unnatürliche westliche Ware – ein Irrtum, der danach schrie, korrigiert zu werden. Dazu gezwungen, sich anzupassen, akzeptierten die Islamisten die Begrenzungen des Nationalstaats und einer Herrschaft, die nicht auf Religion beruhte.

Vor zwei Jahren halfen die Islamisten, die Präsidenten von Tunesien und Ägypten zu stürzen, diese farblosen Erben des einstigen arabischen Nationalismus. Aber sie hatten würdigere und gefährlichere Gegner im Sinn: die Gründerväter des nationalistischen Tunesiens und Ägyptens, Habib Bourguiba und Gamal Abdel Nasser. Sie sind überzeugt, die Geschichte endlich korrigiert und eine Ära der musulmans sans frontières wieder zum Leben erweckt zu haben.

Was wird all das bedeuten? Die Islamisten möchten auf keinen Fall die Macht teilen, die sie so teuer erkauften, und nichts verlieren, was sie so geduldig errungen haben. Sie müssen die Balance halten zwischen ihren Anhängern, die widerborstig, einer Gesellschaft, die nervös, und einer internationalen Gemeinschaft, die unentschieden ist. Halb erliegen sie der Versuchung, schnell zuzuschlagen und ihre Macht zu konsolidieren, halb zieht es sie dahin, die Wogen nur ja zu glätten. Es liegt ihnen eher, auf Zwang zu verzichten und die Menschen selbst wieder ihre schlummernde islamische Seele entdecken zu lassen. Sie werden versuchen, alles auf einmal zu tun: zu herrschen, Schritt für Schritt soziale Veränderungen herbeizuführen und dabei sich selbst treu zu bleiben, ohne eine Gefahr für andere zu werden.

Der Endkampf mit Israel kann warten

Die Islamisten bieten einen Handel an. Im Austausch für wirtschaftliche Hilfe und politische Unterstützung werden sie nicht anrühren, was sie für die Kerninteressen des Westens halten: regionale Stabilität, Israel, den Kampf gegen den Terror, Energieversorgung. Keine Bedrohung westlicher Sicherheit. Kein Handelskrieg. Der Endkampf mit dem jüdischen Staat kann warten. Man konzentriert sich unbeirrt auf die Gestaltung islamischer Gesellschaften. Die USA und Europa mögen darüber Bedenken äußern, sogar Unmut. Aber sie werden darüber hinwegkommen. Genau wie sie über den strengen Fundamentalismus Saudi-Arabiens hinweggekommen sind. Ein Tauschgeschäft – wir respektieren eure Bedürfnisse, also sollte es uns überlassen sein, uns um unsere eigenen zu kümmern – das halten die Islamisten für die Lösung. Betrachtet man die Geschichte, wer könnte es ihnen zum Vorwurf machen?

Mubarak wurde auch gestürzt, weil er als Lakai des Westens galt. Aber die Islamisten, die ihn ersetzen, könnten dem Westen einen süßeren, weil haltbareren Handel anbieten. Sie glauben, dass sie sich erlauben können, was Mubarak sich nicht erlauben konnte. Ohne sein Gewand des Nationalismus war Mubarak nichts als ein nackter Autokrat. Die Muslimbrüder aber verfügen über ein weit größeres Portfolio: moralisch, sozial, kulturell. Sie glauben, dass sie ihren Überzeugungen folgen können, auch wenn sie sich nicht überzeugend antiwestlich geben. Sie können abbremsen, abschwächen, ablenken. Anders als die Verbündeten des Westens haben die Islamisten eine militärische Intervention der NATO gefordert, gestern in Libyen, heute in Syrien, wo auch immer sie die Hoffnung hegen, morgen die Macht zu übernehmen. Die Ungläubigen aus der Ferne, die ohnehin nicht lange bleiben werden, lassen sich doch dazu nutzen, die Ungläubigen und Häretiker vor Ort loszuwerden, die die Islamisten so lange gejagt haben. Keine äußere Einmischung zu dulden, dieses Herzstück einer neuen Unabhängigkeit, ist nicht mehr en vogue. Im Gegenteil gilt das nun als konterrevolutionär.

Jahrzehntelang haben sich die USA eingemischt oder gedroht, um eines zu erreichen: dass arabische Regime westliche Interessen nicht herausfordern. Genau das könnten sie jetzt also ohne großes Zutun bekommen. Wen wundert’s, dass viele glauben, die USA trügen Mitschuld oder seien doch stiller Nutznießer des Aufstiegs der Islamisten.

Israels ehemalige Feinde regieren

Wo es auch hinblickt, sieht Israel den Aufstieg von Islam, Militanz, Radikalismus. Die ehemaligen Verbündeten sind verschwunden, die ehemaligen Feinde regieren. Aber die Islamisten haben andere und größere Ziele. Sie wollen ihr islamisches Projekt vorantreiben, ihre Herrschaft konsolidieren, wo sie nur können, den Westen nicht vor den Kopf stoßen und gefährlich verfrühte Zusammenstöße mit Israel vermeiden. Dass ein jüdischer Staat in der Region existiert, ist und bleibt für sie nicht hinnehmbar. Aber dies ist das letzte Teil eines Puzzles, das vielleicht nie vollendet wird.

Die Schaffung eines unabhängigen und souveränen palästinensischen Staates war nie Kernstück des islamistischen Projekts. Die Hamas, der palästinensische Teil der Muslimbruderschaft, hegt größere, territorial weniger begrenzte, aber auch fernere Ziele. Sie mag weitschweifige Erklärungen abgeben, sie mag sich politisch entwickelt haben, aber von ihrer Ideologie ist sie nie abgewichen: Der jüdische Staat ist illegitim und das ganze historische Palästina islamisch. Neigt sich das Gleichgewicht der Mächte nicht zu eigenen Gunsten, so bleibt man in Deckung und versucht dies zu ändern. Der Rest ist bloße Taktik.

Die palästinensische Frage war die Domäne der palästinensischen Nationalbewegung. In den späten achtziger Jahren wurde ein souveräner Staat im Westjordanland, Gaza und Ostjerusalem deren erklärtes Ziel. Alternativen, ob übergangsweise oder temporär, lehnte man rundweg ab. Der Plan der Islamisten mag grandioser und ehrgeiziger sein, aber er ist auch flexibler. Es ist ihnen nicht wert, für einen kleinen, nur unvollständigen Staat zu kämpfen, der eingeengt bliebe von Israel, durch dessen guten Willen entstanden und weiterhin von ihm abhängig, und dessen Entstehung den Konflikt womöglich beenden würde. Sie können mit flüchtigen Arrangements leben: einem Übergangsabkommen; einem langfristigen Waffenstillstand oder einer Hudna; einer Föderation des Westjor­danlands mit Jordanien und Gazas mit Ägypten. All das würde die weitere Islamisierung der palästinensischen Gesellschaft fördern. All das würde der Hamas erlauben, sich ihrer wahren Berufung, ihren sozialen, kulturellen und religiösen Aufgaben, zu widmen. All das würde der Hamas erlauben, den Konflikt mit Israel zu erhalten, ohne ihn austragen zu müssen. Nichts verletzt die grundlegenden Lehren der Hamas. Sie kann ihr Endziel aufschieben. Eines Tages mag die Zeit für Palästina, für Jerusalem kommen. Nicht jetzt.

Im Zeitalter des arabischen Islamismus könnte Israel die angebliche Kompromisslosigkeit der Hamas geschmeidiger finden als die vordergründige Mäßigung der Fatah. Israel fürchtet das islamische Erwachen. Aber es ist das nationale palästinensische Projekt, das in größerer Gefahr schwebt. Es besitzt keine Lebenskraft mehr; es wird mit alter Politik und längst erschöpften Anführern verbunden; es hat sich selbst aufgebraucht. Die Fatah und die PLO haben keinen Platz in der neuen Welt. Die Zwei-Staaten-Lösung ist niemandes Hauptanliegen. Möglicherweise wird sie nicht wegen Gewalt, Siedlungen oder Amerikas ungeschicktem Agieren einfach untergehen. Sondern wegen allgemeiner Gleichgültigkeit.

Knüpft eine islamische Ära an osmanische Zeiten an?

Es ist keineswegs ausgemacht, dass eine islamische Ära das Ende des nationalistischen Zwischenspiels einläutet und dort wieder anknüpft, wo das Osmanische Reich aufgehört hat. Die Bruderschaft konnte in der Opposition vor allem deshalb florieren, weil sie verschlossen blieb, sich in Geduld übte und auf Gehorsam in den eigenen Reihen achtete. Sie hat Einfluss durch Jahre stiller Arbeit errungen. Sobald aber Islamisten um die Macht kämpfen, werden viele ihrer Vorteile obsolet. Sie müssen offen agieren, weil Politik transparenter ist; sich anpassen, weil der Wandel immer geschwinder wird; und mit Widerspruch aus den eigenen Reihen zurechtkommen, weil das System vielfältiger geworden ist.

Tunesiens regierende Islamisten müssen sich entscheiden, welchen Platz sie dem Islam in der Verfassung einräumen wollen. Bleiben sie moderat, werden sie die Salafisten verärgern, die Säkularen nicht beruhigen und ihre Anhänger verwirren. Ägyptens Muslimbruderschaft wird von Säkularen attackiert, weil sie zu viel Religion in das öffentliche Leben trägt, und von den Salafisten, weil es noch zu wenig ist. Mitglieder spalten sich ab, um sich gemäßigteren oder aber radikaleren Gruppierungen anzuschließen. Dass sich die Bruderschaft für die freie Marktwirtschaft ausspricht und die Mittelklasse umwirbt, kommt bei den Unterprivilegierten nicht gut an.

Worte sind wichtig

Die neue islamistische Sprache, soweit sie Freiheit, Demokratie, Wahlen und Menschenrechte betont, erhält das Lob des Westens. Das alles mögen nur Worte sein, aber Worte sind wichtig, sie können ein eigenes Leben entwickeln, politische Änderungen erzwingen, ein Zurückweichen erschweren. Jetzt kann die Bruderschaft zu der Partei werden, die sie behauptet zu sein – aber was bleibt dann vom Islamismus? Die Reihen der Muslimbrüder mögen in deren Geschichte immer fest geschlossen gewesen sein; doch jetzt sprechen sie weder zu Hause noch im Ausland mit einer Stimme. Wenn die Macht lockt, entwickelt plötzlich jeder Zweig der Bewegung andere, offen miteinander konkurrierende politische Prioritäten. Aber auch mit den Dilemmata der Außenpolitik haben sich die Brüder zu befassen. Ägyptens neues Selbstbewusstsein, sein Versuch einer unabhängigeren Außenpolitik, könnte zu Konflikten mit dem Westen führen. Mit der offensichtlich getroffenen Entscheidung, antiwestliche und antiisraelische Positionen auf Eis zu legen, riskiert man, die eigene Bevölkerung gegen sich aufzubringen. Viele Ägypter wollen etwas anderes als einen Mubarak, der Koranverse zu zitieren weiß.

In der Opposition waren die Islamisten erfolgreich, weil sie andere verantwortlich machen konnten; als Regierende könnten sie Einbußen erleiden, weil andere nun sie verantwortlich machen werden. Verwässern sie ihre innen- und außenpolitischen Ziele, riskieren sie, ihre Basis zu verlieren; bleiben sie dabei, werden sie Nichtislamisten und den Westen gegen sich aufbringen. Vertagen sie den Kampf gegen Israel, wird ihre Rhetorik völlig losgelöst von ihrer Politik bleiben. Führen sie ihn, wird der neu gewonnene westliche Bundesgenosse sie als gefährlich empfinden. Erklären sie, dass sie sich ja nur aus taktischen Gründen moderat verhalten, stellen sie sich selbst bloß. Schweigen sie, verwirren sie ihre Basis. Dem Versuch, einen solchen olympischen Balanceakt zu vollführen, sind Grenzen gesetzt. Die Macht des politischen Islam speiste sich aus der Tatsache, dass er sie bislang nicht besaß. Die jüngsten Erfolge könnten der Anfang seines Niedergangs sein. Wie viel leichter das Leben auf der anderen Seite doch war.

In all dem Chaos und der Unsicherheit bieten nur die Islamisten eine vertraute, authentische Perspektive für die Zukunft. Sie mögen straucheln oder fallen, aber wer würde den Stab aufheben? Die liberalen Kräfte haben in diesen Gesellschaften niemals starke Wurzeln geschlagen. Die Überbleibsel des alten Regimes sind mit der Macht vertraut, aber sie scheinen ausgelaugt und erschöpft. Wenn das Land noch instabiler wird und die Wirtschaft weiter in tiefe Täler rutscht, dann dürften sie von einer Welle der Nostalgie profitieren. Aber eine echte Chance besitzen sie nicht, solange ihnen nichts anderes einfällt als: Ja, früher waren die Zeiten schlecht, aber jetzt sind sie noch schlechter.

Damit bleibt eine Mischung aus Nationalisten, Antiimperialisten, vorgestri­gen Linken und Nasser-Anhängern übrig. Sie besaßen die einzige legitime Ideologie in der arabischen Welt, auf die sich jene berufen haben, die gegen den Kolonialismus gekämpft haben und dann gegen jene, die die Kolonialmächte ersetzt haben. Unwissentlich, aber eindeutig erkennbar haben sich auch die Demonstranten der vergangenen Monate auf diese Ideen bezogen, als sie Würde, Unabhängigkeit und soziale Gerechtigkeit forderten und damit dasselbe ideologische Wörterbuch benutzten wie die Herrscher, die sie aus ihren Ämtern jagten.

Umweg oder natürlicher Pfad?

Diese nichtislamistische, „fortschrittliche“ Ideologie besitzt Wurzeln, Anziehungskraft und eine Basis; ihr fehlen Organisation und Ressourcen, und es hat ihr geschadet, dass Generationen in ihrem Namen geherrscht und sie dabei so gründlich verdorben haben. Kann sie sich neu erfinden? Wenn die Muslimbruderschaft die nationalistischen Gefühle der Menschen herunterspielt, wenn sie deren Wunsch nach sozialer Gerechtigkeit ignoriert, wenn sie nicht effektiv regiert, dann gäbe es eine Chance. Die eher nationalistische, fortschrittlichere Weltsicht könnte noch eine Renaissance erleben.

Ein Video ist gerade populär: Nasser erzählt gebannten Zuhörern die Geschichte seines Zusammentreffens mit dem damaligen Führer der Muslimbruderschaft. Der bittet ihn, Frauen zum Tragen eines Schleiers zu zwingen. Nasser antwortet: Trägt deine Tochter einen Schleier? Nein, antwortet der Bruder. Wenn du schon nicht deine Tochter zwingen kannst, wie soll ich dann Millionen ägyptische Frauen zwingen? Er lacht und die Menge lacht mit ihm. Das war in den frühen fünfziger Jahren, vor mehr als einem halben Jahrhundert. Heute spürt man eine wehmütige Sehnsucht nach solch Humor und Schlagfertigkeit. Die Geschichte macht keinen Fortschritt.

War das vergangene Jahrhundert eine gegen die Regeln verstoßende Abweichung von einer der arabischen Welt innewohnenden islamischen Bahn? Ist die heutige Renaissance des Islamismus ein flüchtiger, anormaler Rückfall in eine längst vergangene Vergangenheit? Welches ist der Umweg? Und welches der natürliche Pfad?

Hussein Agha ist Senior Associate Member von St.  Anthony’s College, Oxford, und Co-Autor von „A Frame-work for a Palestinian National Security Doctrine“ (2012).

Robert Malley ist Direktor des Nahost- und Nordafrika-Programms bei der International Crisis Group. Der Autor gibt hier seine persönliche Meinung wieder.

Der Text erscheint in der Januar/Februar-Ausgabe 2013 von INTERNATIONALE POLITIK (IP) mit freundlicher Genehmigung der New York Review of Books.